Über das Projekt
Was bedeutet Bergen-Belsen heute? Mit dem viel zitierten nahenden Ende der Zeitzeug_innenschaft und dem wachsenden zeitlichen Abstand zu den Ereignissen der Jahre 1933 bis 1945 wird in Wissenschaft und breiter Öffentlichkeit regelmäßig die Frage nach der Zukunft der Erinnerung gestellt. Präziser gefragt: An wen, weshalb und wie erinnern wir in Zukunft, wenn es um den Nationalsozialismus, sein gesellschaftliches System und insbesondere um die Menschen geht, die den Verbrechen zum Opfer gefallen sind?
Die Gedenkstätte Bergen-Belsen nimmt diese Fragen auf und beschäftigt sich intensiv mit ihnen. Das bedeutet, weiterhin präzise darzustellen, welche Verbrechen wo, an wem und von wem begangen wurden. Es heißt aber außerdem, mit Besucher_innen gemeinsam festzustellen, welche Aktualität und Relevanz diese Verbrechen heute noch haben.
Die Bildungs- und Vermittlungsarbeit in der Gedenkstätte Bergen-Belsen möchte Prozesse der Auseinandersetzung darüber anstoßen. Dies ist nicht denkbar ohne ein fundiertes kritisches ethisches Geschichtsbewusstsein, das historisches Urteilsvermögen voraussetzt. Dem Gedenkstättenbesuch kommt dabei eine wichtige Rolle zu; doch knüpft daran die Frage an, wie die Gedenkstätte bzw. Themen des Ortes über oft kurze Besuche hinaus, in der Vermittlungsarbeit von Multiplikator_innen präsent und wirksam sein kann.
Das „Bergen-Belsen Teachers and Young Professionals Programme“ setzt hier inhaltlich und methodisch an: Es möchte Studierende und junge Berufstätige befähigen, am Beispiel Bergen-Belsens Bildungsformate zu entwickeln, die aufgrund ihrer Form und ihres Inhalts eine vertiefende und nachhaltige Auseinandersetzung mit der Geschichte und ihrer Nachwirkung ermöglichen. Diese Formate sollen in der jeweils eigenen Vermittlungsarbeit der Teilnehmenden zum Einsatz kommen. Darüber hinaus soll das Programm die Selbstwirksamkeit stärken, indem über die eigene Bildungspraxis reflektiert wird. Die Teilnehmenden sollen in ihren Rollen als Multiplikator_innen auch in ihren jeweiligen Einrichtungen gestärkt werden, indem gemeinsam überlegt wird, wie die Ergebnisse der Seminare wiederum dort implementiert werden können.
Programm
Das „Bergen-Belsen Teachers and Young Professionals Programme“ wird als mehrtägige Veranstaltung für bis zu 20 Teilnehmende zunächst in einer Erprobungsphase von 2020 bis 2023 jeweils im Sommer oder Spätherbst stattfinden.
In den Seminaren werden die Teilnehmenden mit ihren individuellen Perspektiven und Erfahrungen abgeholt. Neben Input zu Themen des Ortes und seiner Geschichte, geht es auch um die Reflexion der eigenen Bildungspraxis, der eigenen Haltung und der Wahrnehmung der Teilnehmenden und ihrer Perspektiven. Ergebnis des Programms können dann konkrete Produkte oder Formate sein, die von den Teilnehmenden in ihren eigenen Kontexten verwendet werden und auch anderen Nutzer_innen zugänglich gemacht werden können. Es können aber auch Produkte entstehen, die auf die Implementierung der Seminarinhalte in den Einrichtungen der Teilnehmenden abzielen, z.B. indem der Prozess so aufbereitet und dokumentiert wird, dass auch andere davon profitieren.
Zum Abschluss des Modellprojektes soll in einer öffentlichen Diskussionsveranstaltung die Verknüpfung aktueller Perspektiven in der Erinnerungskultur mit der Auseinandersetzung mit historischen Verfolgungsorten des NS wie beispielsweise Bergen-Belsen debattiert werden.
Zielgruppen
Die Gedenkstätte Bergen-Belsen spricht mit dem Projekt vor allem junge Berufstätige und Studierende als Multiplikator_innen an. Die Fachrichtungen und Studiengänge der avisierten Teilnehmenden sollen eine Tätigkeit im weit verstandenen Berufsfeld von Bildung, Schule, Erziehung und Sozialer Arbeit ermöglichen. Die Gedenkstätte möchte im Besonderen Teilnehmende mit diversen kulturellen Hintergründen und Erfahrungen erreichen.
EduLabs
Bergen-Belsen EduLab 2020: Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit als Thema für die Bildungsarbeit
Vom 28. September bis zum 5. Oktober 2020 fand unter dem Titel „Edulab 2020 Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit als Thema für die Bildungsarbeit“ der Auftakt zu unserem dreijährigen Modellprojekt statt. Aufgrund der Corona-Pandemie fand die Veranstaltung digital statt.
Zwölf Teilnehmer_innen, bestehend aus Lehramtsstudierenden, Lehrer_innen, und Multiplikator_innen in der außerschulischen historisch-politischen Bildung z.T. mit Lehramtsstudium sowie der universitären Bildung, nahmen am Seminar teil.
Als rein digitales Seminar wechselten sich Einheiten vor dem Bildschirm mit Einheiten der selbstständigen Arbeit ab, etwa der Erschließung der Inhalte der Ausstellung. Auf einer speziell dazu eingerichteten internen digitalen Plattform wurden dazu Materialien zur Verfügung gestellt, die eine Vertiefung und Einblicke in die Arbeit der Gedenkstätte ermöglichten. Um den (historischen) Ort vorzustellen und einen visuellen Eindruck zu geben, gab es einen live kommentierten virtuellen Rundgang über das Gelände.
Die Workshops starteten zunächst mit einem Impuls zum Thema gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und den Begriffen von Gleichheit, Ungleichheit und Ungleichwertigkeit, sowie Ideologien der Ungleichwertigkeit. Vertieft behandelt wurden dann die Themen Antiziganismus und Antisemitismus als spezifische Ausprägungen von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit.
Erklärtes Ziel des Seminars war die Erarbeitung von eigenen Konzeptskizzen, in denen die Teilnehmenden das Thema gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit aufgreifen und in ein Format für ihre eigene Tätigkeit umsetzen sollten. Drei Arbeitsgruppen mit sehr unterschiedlichen Zugängen entstanden, die sich gleichwohl alle an den Kriterien der Nachhaltigkeit von Bildungsprogrammen und eigenständiger Auseinandersetzung mit dem Thema gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit orientierten.
Das Edulab 2020 war ein gelungener Auftakt für das Projekt, mit vielen Anregungen und Denkanstößen für die beiden weiteren Jahre. Schulische wie außerschulische Multiplikator_innen haben ein großes Interesse daran haben, sich Themen wie gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, Krieg, Holocaust, Nationalsozialismus und Rassismus für ihre Arbeitskontexte zu erarbeiten. Das Projekt kann hierzu einen wichtigen Beitrag leisten.
Ein detaillierter Bericht findet sich im Jahresbericht 2020 der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten
Bergen-Belsen EduLab 2021: Vom Privileg sich (nicht) mit der Geschichte auseinandersetzen zu müssen? Multiperspektivität in der Bildungsarbeit zur Geschichte des Nationalsozialismus und zum Zweiten Weltkrieg in der heutigen Einwanderungsgesellschaft
2021 fand das EduLab zum Thema Multiperspektivität als zweiteiliges Seminar statt: vom 15. bis 19. November in Hermannsburg und vom 10. bis 11. Dezember digital. Zwölf Multiplikator_innen aus den Bereichen Schule und außerschulischer Bildungsarbeit sowie Lehramtsstudierende nahmen teil.
Mithilfe von Reflexionsübungen, Textarbeit und einem Impuls der Soziologin Prof. Dr. Julia Bernstein näherten sich die Teilnehmenden dem Thema Multiperspektivität und der Frage, welche Bezüge jede_r von ihnen zum Thema Nationalsozialismus hat und was diese für die eigene Arbeit bedeutet.
Beim Besuch der Gedenkstätte Bergen-Belsen lernten die Teilnehmenden viele verschiedene Perspektiven und Sichtweisen auf die Geschichte Bergen-Belsens kennen: Erlebnisse verschiedener Häftlinge und Gefangener, Erinnerungen von Überlebenden, Aussagen von Anwohner_innen des Lagers, Auszüge aus Täter_innen-Dokumenten. Am internationalen Mahnmal diskutierten die Teilnehmenden die Bedeutung von Verfolgungskontinuitäten und Formen von Empowerment Betroffener am Beispiel der Sinti_zze und Rom_nja. Sie mußten einen langen und harten politischen Kampf durchfechten, um offiziell als Opfergruppe anerkannt zu werden. Eine der ersten großen und internationalen Veranstaltungen im Gedenken an die Opfer des nationalsozialistischen Genozids an den Sinti_zze und Rom_nja organisierte 1979 der damalige Verband Deutscher Sinti mit Unterstützung der Gesellschaft für bedrohe Völker in der Gedenkstätte Bergen-Belsen.
Zwei Tage setzten sich die Teilnehmenden auch mit den Ansätzen einer lebensweltlich orientierten Jugendkulturarbeit auseinander. Etwa über Musik finden Jugendliche einen Zugang, sich mit Themen wie Ausgrenzung, Mobbing, Rassismus oder Vielfalt und Mitbestimmung zu beschäftigen. Mittels praktischer Methoden wurde im Seminar vieles ausprobiert und dadurch neue Anregungen für die eigene Arbeit gewonnen.
Auch in diesem Jahr hatten die Teilnehmenden die Aufgabe, ein eigenes pädagogisches Format zu entwickeln, das sich auf ihre jeweiligen Zielgruppen bezog. Bereits während des Seminars bildeten sich Arbeitsgruppen und wurden Ideen ausgetauscht. Sie wurden während der dreiwöchigen Zwischenzeit bis zum zweiten Termin des Seminars ausgearbeitet und dann dort vorgestellt. Die Bandbreite der Konzepte, in denen immer auch das Thema Multiperspektivität eine Rolle spielte, reichte über das Einrichten eines Blogs zum Thema „Verstrickung der Wirtschaft in der NS-Zeit und ihre unzureichende Entnazifizierung“ über Projekttage oder einen Studientag in der Gedenkstätte Bergen-Belsen bis hin zu ein- oder mehrtägigen Workshops und Seminaren.
Das zweigeteilte, hybride Format wurde einerseits sehr positiv bewertet, da es schön war, die Seminargruppe mit etwas Abstand erneut zu treffen. Auch motivierte es die Teilnehmenden, ihre Projekte weiterzuentwickeln. Andererseits zeigte sich aber auch die Schwierigkeit, einen Spanungsbogen über einen gewissen Zeitraum hinweg aufrecht zu erhalten.
Einige Ergebnisse des Edulab zur Ansicht:
- Projektskizze von Chiara Severino, Grundschullehramt mit integrierter Sonderpädagogik: Workshop zu Sensibilisierung angehender Grundschullehrkräfte in Bezug auf gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit im Nationalsozialismus
- Projektskizze von Pauline Holz, damals freie und jetzt Projektmitarbeiterin im Max Mannheimer Studienzentrum Dachau: Antisemitismus nach 1945. Workshop für Multiplikator_innen
Bergen-Belsen EduLab 2022: Erinnern und Erinnerungen an die Zeit des Nationalsozialismus und den Holocaust – Bedeutung, Formen, Wandel, Zukunft
Das letzte Seminar richtete sich dezidiert an Studierende der Sozialen Arbeit. Im Seminar wollten wir uns mit den Themen Erinnern und Erinnerungen beschäftigen. Dabei sollte es nicht um die Frage des „richtigen“ Erinnerns gehen, sondern darum, ausgehend vom Ort Bergen-Belsen und seiner Geschichte, folgende Fragen zu diskutieren:
- An wen, weshalb und wie wird in Zukunft erinnert, wenn es um den Nationalsozialismus, sein gesellschaftliches System und insbesondere um die Menschen geht, die den Verbrechen zum Opfer gefallen sind?
- Wie wurden und werden Erinnerungsorte gestaltet?
- Inwieweit ist Erinnerung an spezielle Orte geknüpft?
- Was ist „angemessene“ Erinnerung und wer bestimmt das?
Darüber hinaus war geplant, weitere Erinnerungsorte in den Blick zu nehmen, wie Stolpersteine oder Mahnmale sowie die „Euthanasie“ – Gedenkstätte Lüneburg zu besuchen. Hier sollte es neben der Vermittlung von historischem Wissen auch um die Frage der Erinnerung an diese spezifische Opfergruppe und den Umgang damit – gesamtgesellschaftlich wie auch in den betroffenen Familien damals und heute gehen.
Leitend sollte die Frage sein, wie solche Erinnerungsorte von wem genutzt werden und wie sie sich angeeignet werden. Mittels künstlerischen Methoden aus dem Feld der Paper Art sollten die Teilnehmenden sich praktisch und eigenständig mit dem Thema auseinander setzen und eigene Kunstobjekte erarbeiten. Diese sollten über die Website und die Social Media Kanäle der Gedenkstätte Bergen-Belsen präsentiert werden.
Um dem Interesse dieser besonderen Studierendengruppe gerecht zu werden, war geplant, die Teilnehmenden als Studierende der Sozialen Arbeit und Expert_innen für diesen Bereich in einem eigenen Programmpunkt das Verhältnis von Erinnerungskultur als historisch-politisches Thema zu Ihrer späteren Tätigkeit reflektieren, analysieren und bewerten.
Aufgrund zu geringer Anmeldezahlen konnte das Seminar leider nicht stattfinden.
Das Projekt Young Teachers and Professionals Programme findet seinen Abschluss am 8. Dezember 2022 mit einem Dialog-Raum, in dem sich Interessierte und bereits Tätige in der allgemeinen Erwachsenenbildung anhand von Praxisbeispielen zu Fragen von Bildungsarbeit für diese Zielgruppe austauschen. Perspektivisch möchte die Gedenkstätte den Bereich der allgemeinen Erwachsenenbildung stärken und ausbauen.
Förderer
Das Projekt wird gefördert vom Staatsministerium für Kultur und Medien im Rahmen des Bundesprogramms „Jugend erinnert“.
Kontakt
Gedenkstätte Bergen-Belsen
Abteilung Bildung und Begegnung
Nicola Schlichting, Wissenschaftliche Mitarbeiterin
Katrin Unger, Leitung
Tel.: +49 (0) 5051 / 47 59 -0
E-Mail: bildung.bergen-belsen@stiftung-ng.de