Kinder und Frauen aus Frankreich im KZ Bergen-Belsen

Von den Häftlingen aus Frankreich, die längere Zeit im KZ Bergen-Belsen waren oder dort befreit wurden, sind 700 Frauen und 80 Kinder namentlich bekannt. Die meisten französischen Frauen wurden als jüdische oder politische Häftlinge deportiert und aus Konzentrations- und Zwangsarbeitslagern nach Bergen-Belsen überstellt. Dieser Artikel nimmt hingegen eine besondere Gruppe von Frauen und Kindern in den Blick, die als jüdische Geiseln direkt aus dem Durchgangslager Drancy in das Austauschlager Bergen-Belsen verschleppt wurden.

von Janine Doerry

Verfolgung von Jüdinnen und Juden in Frankreich 1940-1944

Ab dem Sommer 1940 wurden Jüdinnen und Juden aus der französischen Gesellschaft ausgegrenzt: Dazu zählten Ausbürgerung, Registrierungspflicht, Berufsverbote, Internierung und – im besetzten Teil Frankreichs – das Tragen des sogenannten Judensterns. Diese Maßnahmen wurden teils von der Vichy-Regierung, teils von der deutschen Besatzungsmacht angeordnet und durchgeführt. Im Mai, August und Dezember 1941 wurden in Paris zahlreiche jüdische Männer gezielt verhaftet. Im Juli 1942 fanden im besetzten und im unbesetzten Teil Frankreichs Massenverhaftungen statt, bei denen Zehntausende Jüdinnen und Juden festgenommen wurden, darunter auch zahlreiche Kinder. Die meisten von ihnen wurden binnen weniger Tage oder Wochen in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert. Insgesamt gab die Vichy-Regierung der deutschen Besatzungsmacht mehr als 75.000 Jüdinnen und Juden zur Deportation preis.

Für einige Gruppen jüdscher Personen versuchten die französischen Behörden Ausnahmen von der Internierung und Deportation zu machen. Zu diesen Ausnahmen zählten auch die jüdischen Frauen und Kinder von Kriegsgefangenen. Unter den anfangs 1,5 Millionen Kriegsgefangenen aus Frankreich, von denen mehr als eine Million mehrere Jahre im Gewahrsam der deutschen Wehrmacht blieben, befanden sich 10.000 bis 15 000 Juden. Paradoxer Weise versuchte die Vichy-Regierung, diese französisch-jüdischen Kriegsgefangenen und ihre jüdischen Familienmitglieder vor der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik zu schützen.

Diese Schutzbemühungen trugen dazu bei, dass diese Gruppe von Kriegsgefangenen im Gewahrsam der Wehrmacht trotz antisemitischer Diskriminierungen unter dem Schutz der Genfer Konvention von 1929 über die Behandlung von Kriegsgefangenen stand. In der Regel überlebten sie den Zweiten Weltkrieg in deutscher Gefangenschaft. Jüdische Familienmitglieder von Kriegsgefangenen erhielten in Frankreich zwar einen Sonderstatus, wurden aber zum Teil dennoch verhaftet und interniert. Wie viele von ihnen deportiert und in den nationalsozialistischen Vernichtungslagern ermordet wurden, ist nicht bekannt. 245 Kinder und Frauen von Kriegsgefangenen wurden als Geiseln direkt in das Austauschlager des KZ Bergen-Belsen überstellt.

Kinder und Frauen von Kriegsgefangenen im Lager Drancy

Von den 75.000 Jüdinnen und Juden, die aus Frankreich in die nationalsozialsozialistischen Vernichtungs- und Konzentrationslager deportiert wurden, überlebten nur 2.569 Männer, Frauen und Kinder. Bis auf wenige Ausnahmen wurden die Deportationstransporte von Jüdinnen und Juden aus Frankreich im Sammellager Drancy bei Paris zusammengestellt.

Die Frauen und Kinder von Kriegsgefangenen behielten auch in Drancy ihren Sonderstatus und sollten nicht sofort deportiert werden. Aufgrund dessen wurden sie zwischenzeitlich in die französischen Internierungslager Pithiviers und Beaune-la-Rolande überstellt. Einige Frauen von Kriegsgefangenen wurden in den Lagern Austerlitz, Lévitan und Bassano in Paris zur Arbeit eingesetzt. Manche Kinder von Kriegsgefangenen wurden aus Drancy in Kinderheime in der Pariser Region gebracht, doch sie blieben registriert und konnten jederzeit zurückgeholt werden.

Während ihrer Internierung mussten die Frauen und Kinder von Kriegsgefangenen die Deportation tausender anderer jüdischer Männer, Frauen und Kinder miterleben, unter denen sich auch Verwandte und Bekannte befanden. Obwohl sie wussten, dass sie besser geschützt waren als andere, befürchteten sie selbst deportiert zu werden. Diese Angst war nicht ungerechtfertigt, da die Anerkennung ihres Sonderstatus vom Belieben der deutschen Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes abhängig war, unter deren Kontrolle das Lager Drancy stand. Ihr geschützter Status führte schließlich dazu, dass sie als Austauschgeiseln verwendbar erschienen. Anstatt in eines der nationalsozialistischen Vernichtungslager deportiert zu werden, wurden 166 Frauen und 77 Kinder von Kriegsgefangenen aus diesem Grund im Mai und Juli 1944 in das Konzentrationslager Bergen-Belsen verschleppt.

Französische Frauen und Kinder im Austauschlager Bergen-Belsen

Das Konzentrationslager Bergen-Belsen nahm im nationalsozialistischen Lagersystem eine besondere Stellung ein: Es entstand im Sommer 1943 weder als Vernichtungs- noch als Arbeitslager, sondern sollte als sogenanntes Austauschlager dienen. Dort wurden Jüdinnen und Juden aus zahlreichen von Deutschland besetzten Ländern gefangen gehalten. Sie erschienen der SS und dem Auswärtigen Amt als Geiseln für einen Austausch gegen im Ausland internierte Deutsche wie auch gegen Material für die Kriegsführung oder Devisen geeignet. Aus diesem Grund waren die Existenzbedingungen der Häftlinge im Austauschlager zunächst besser als in anderen Konzentrationslagern.

Bei der Ankunft im Austauschlager waren die französisch-jüdischen Frauen und Kinder jedoch schockiert: Das Leben in einem Internierungslager kannten sie bereits aus Drancy, aber in Bergen-Belsen waren die Unterkünfte und Nahrung, Waschgelegenheiten und Latrinen erheblich schlechter als dort. Besonders einschneidend wirkten das tägliche lange Appellstehen und die brutale Behandlung durch die Wachmannschaften. Tagsüber mussten die Frauen anfangs in verschiedenen Werkstätten arbeiten. Die Kinder wurden währenddessen von einigen Frauen betreut, die von diesen Arbeiten entbunden waren.

In Anbetracht der immer geringeren Nahrungsmengen kam der gelegentlichen Zustellung von Paketen, die einige der kriegsgefangenen Männer nach Bergen-Belsen senden konnten, besondere Bedeutung zu. Um sich gegenseitig zu unterstützen, schlossen sich die französisch-jüdischen Frauen und Kinder zu kleinen Gruppen, den sogenannten Lagerfamilien, zusammen.

Im Herbst und Winter 1944 trafen zahlreiche Häftlinge aus anderen Konzentrationslagern in Bergen-Belsen ein. Den Frauen und Kindern im Austauschlager gelang es mit anderen französisch-jüdischen Häftlingen Kontakt aufzunehmen. Auf diese Weise fanden sie die Gerüchte über die nationalsozialistischen Vernichtungslager bestätigt. Aber auch im überfüllten Konzentrationslager Bergen-Belsen wurde der Tod durch Hunger, Durst, Krankheiten und Kälte zu einem alltäglichen Anblick.

Räumung des Austauschlagers und Befreiung

Als britische Truppen am 15. April 1945 im Konzentrationslager Bergen-Belsen etwa 50.000 Häftlinge befreiten, befanden sich die Gefangenen des Austauschlagers nicht mehr dort. Anfang April wurden sie auf Räumungstransporten über das weitgehend zerstörte Schienennetz  in Richtung des Konzentrationslagers Theresienstadt transportiert. Während der Transporte und nach der Befreiung erkrankten zahlreiche Austauschhäftlinge an Typhus. Diese Krankheit, der Mangel an Nahrung und Wasser und die Entkräftung forderten unter den Austauschgeiseln viele Todesopfer. Außerdem wurden die Häftlingszüge auf der Fahrt mehrfach von Tieffliegern der Alliierten angegriffen, die sie vermutlich für Militärtransporte hielten.

Einer der Räumungstransporte erreichte am 20. April das KZ Theresienstadt, doch die französisch-jüdischen Frauen und Kinder von Kriegsgefangenen  befanden sich in den beiden anderen Transporten. Dadurch wurden elf der französisch-jüdischen Frauen bereits am 13. April 1945 von amerikanischen Truppen bei Magdeburg befreit. Die anderen Frauen und Kinder durchlitten hingegen eine zwei Wochen dauernde Irrfahrt, bevor sowjetische Truppen sie am 23. April 1945 östlich von Torgau befreiten und im nahe gelegenen Dorf Tröbitz unterbrachten. In den folgenden Tagen und Wochen starben dort noch zahlreiche ehemalige Austauschhäftlinge an Typhus und den Folgen der Haft- und Transportumstände.

Die Überlebenden legten einen jüdischen Friedhof für die Opfer an, der sich noch immer neben dem Ortsfriedhof des kleinen Dorfes befindet. Darüber hinaus erinnern mehrere Mahnmale an Massengräber von Austauschhäftlingen, die während des Transportes starben. Anlässlich des 70. Jahrestages eröffnet in Tröbitz im April 2015 eine Ausstellung über die Befreiung des Räumungstransportes und die Unterbringung und Versorgung der Häftlinge.

Aus dem Austauschlager Bergen-Belsen kehrten 225 jüdische Frauen und Kinder von französischen Kriegsgefangenen und ein weiteres, in Bergen-Belsen geborenes Kind nach Frankreich zurück. Vierzehn Frauen, drei Kinder und eine Jugendliche starben vor der Rückkehr nach Frankreich.

Seminarangebote und Literatur

Seminarangebote

In der pädagogischen Abteilung der Gedenkstätte Bergen-Belsen werden Studientage mit Frankreich-Bezug angeboten, u.a. zum Themenschwerpunkt „Kinder aus Frankreich im Austauschlager Bergen-Belsen“. Das Angebot richtet sich an deutsch- und an französischsprachige Gruppen. Dabei werden unter anderem Biografien von Kindern aus dieser Häftlingsgruppe einbezogen.

Literatur

Verena Buser: Überleben von Kindern und Jugendlichen in den Konzentrationslagern Sachsenhausen, Auschwitz und Bergen-Belsen, Berlin 2011.

Janine Doerry: Rettungsbemühungen für jüdische Frauen und Kinder von Kriegsgefangenen aus Frankreich, in: Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland, Bd.10, 2007, S. 23–38.

Janine Doerry: Französische child survivors des Austauschlagers Bergen-Belsen. Individuelle Erinnerungsmuster, familiales und gemeinschaftliches Gedächtnis, in: Janine Doerry/Thomas Kubetzky/Katja Seybold (Hg.), Das soziale Gedächtnis und die Gemeinschaften der Überlebenden: Bergen-Belsen in vergleichender Perspektive, Göttingen 2014, S. 232–254.

Diana Gring: Zwischen „Familie im Lager“ und „Lagerfamilie“ – Kinder und ihre familiären Beziehung in Videointerviews mit Child Survivors des Konzentrationslagers Bergen-Belsen, in: Stiftung Niedersächsische Gedenkstätten (Hg.), Bergen-Belsen. Neue Forschungen, Göttingen 2014, S. 124-149.

Thomas Kubetzky: Fahrten ins Ungewisse. Räumungstransporte aus den Konzentrationslager Bergen-Belsen im April 1945, in: Habbo Knoch/Thomas Rahe (Hg.), Bergen-Belsen. Neue Forschungen, Göttingen 2014, S. 150–176.

Empfohlene Zitierweise

Janine Doerry: Kinder und Frauen aus Frankreich im KZ Bergen-Belsen (2015). In: Geschichte.Bewusst.Sein.de, URL: https://geschichte-bewusst-sein.de/kinder-und-frauen-aus-frankreich-im-kz-bergen-belsen/ [Zugriffsdatum]