Antiziganismus

Der Begriff Antiziganismus spielt seit einigen Jahren in der historisch-politischen Bildungsarbeit eine wichtige Rolle. Der Artikel gibt einen Einblick in das Themenfeld, wobei die Verfolgungsgeschichte der Sinti und Roma im Nationalsozialismus einen Schwerpunkt einnimmt. Darüber hinaus werden Kontinuitäten der Diskrimierung und Verfolgung, aktuelle Erscheinungsformen des Antiziganismus und Möglichkeiten einer pädagogischen Auseinandersetzung mit dem Thema diskutiert.

von Franziska Göpner

Was ist Antiziganismus?

Antiziganismus ist ein mehrdimensionales und historisch gewachsenes soziales Phänomen und umfasst einen Komplex an Ressentiments und daraus folgenden (gewalttätigen) Handlungen gegenüber Sinti/Sintize, Roma/Romnja und anderen Personengruppen. Zunächst beschreibt der Begriff die Wahrnehmung und Darstellung bestimmter Personen und Personengruppen unter dem stigmatisierenden Ausdruck „Zigeuner“. An diese Konstruktion einer Fremdgruppe ist die Zuschreibung bestimmter Eigenschaften wie beispielsweise Armut, Nicht-Sesshaftigkeit, Ungebundenheit oder eine von der Norm abweichende Lebensweise geknüpft. Antiziganismus bezeichnet damit sowohl die Bilder, die sich andere Menschen von vermeintlichen „Zigeunern“ machen, als auch die darauf begründete Praxis der Diskriminierung, Ausgrenzung und Verfolgung der Betroffenen. Antiziganismus ist gekennzeichnet durch ein Konglomerat abwertender Stereotypen, das kulturell über Jahrhunderte vermittelt worden ist und auch heute noch eine Wirksamkeit entfaltet. Die Formen antiziganistischer Diskriminierung wenden sich insbesondere gegen Sinti/Sintize und Roma/Romnja, aber auch andere Personen, denen eine „unangepasste“ Lebensweise unterstellt wird.

Sinti/Sintize und Roma/Romnja sind Selbstbezeichnungen, wobei Roma die größte ethnische Minderheit in Europa benennt, für die beispielsweise eine gemeinsame Sprache, das Romanes, charakteristisch ist. Sinti und Sintize sind eine Untergruppe der Roma, die seit Beginn des 15. Jahrhunderts in Deutschland lebt. Der deutsche Ausdruck „Zigeuner“ hingegen ist stark abwertend besetzt und wird aus diesem Grund von den meisten Roma und Romnja abgelehnt.

Transparent mit dem Motto der Gedenkfeier und Kundgebung zur Erinnerung an den Völkermord an den Sinti und Roma in der Gedenkstätte Bergen-Belsen, 27. Oktober 1979. Foto: Uschi Dresing

Transparent mit dem Motto der Gedenkfeier und Kundgebung zur Erinnerung an den Völkermord an den Sinti und Roma in der Gedenkstätte Bergen-Belsen, 27. Oktober 1979. Foto: Uschi Dresing

 

Der Begriff des Antiziganismus hat sich wissenschaftlich seit den 1980er Jahren weitgehend durchgesetzt und verknüpft sowohl sozial- und kulturwissenschaftliche als auch historische Perspektiven auf die Diskriminierung und Verfolgung. Gleichwohl ist er als Begriff nicht unumstritten, weil er von der Wortbildung her selbst auf dem Konstrukt des „Zigeuners“ aufbaut.

Historische Verfolgung und Kontinuitäten

Die Geschichte der Sinti/Sintize und Roma/Romnja ist gekennzeichnet von einer Jahrhunderte langen Diskriminierung und Verfolgung, die ihre drastischste Ausprägung im nationalsozialistischen Genozid fand. Bereits Anfang der 1920er Jahre etablierte sich – nicht nur in Deutschland – eine staatliche „Zigeunerpolitik“ mit dem Ziel einer systematischen Erfassung und Kontrolle dieser Personengruppen. Während des Nationalsozialismus wurden die als „Zigeuner“ bezeichneten Personen als „Volksfremde“ definiert, systematisch verfolgt und schließlich ermordet. Die Grundlage dafür bildete die Zusammenarbeit verschiedener staatlicher Institutionen, u. a. von der Kriminalpolizei und der 1936 gegründeten „Rassenhygienischen und erbbiologischen Forschungsstelle“ im Reichsgesundheitsamt, die die Erforschung, rassistische Klassifizierung und Dokumentation der als „Zigeuner“ bezeichneten Personen zum Ziel hatte. Diese wurden in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt („Festsetzungserlass“ von 1939), in Lagern interniert und zur Zwangsarbeit eingesetzt. Außerdem wurden Sinti/Sintize und Roma/Romnja auch als sogenannte Asoziale verfolgt und damit aus der propagierten nationalsozialistischen Volksgemeinschaft ausgeschlossen.

Die NS-Verfolgungsorgane radikalisierten ihre Politik sukzessive. Ende 1942 verfügte der SS-Chef Heinrich Himmler die systematische Deportation aller im Reichsgebiet lebenden als „Zigeuner“ verfolgten Personen in das „Zigeunerfamilienlager“ in Auschwitz-Birkenau. Dort wurden über 20 000 Menschen in den Gaskammern ermordet oder starben an den Folgen von Hunger und Misshandlungen. Noch mehr Roma und Romnja wurden im besetzten Osteuropa von Erschießungskommandos der SS, der Polizei und der Wehrmacht ermordet.

Diese Verfolgungsgeschichte endete nicht mit dem Jahr 1945, sondern setzte sich auf institutioneller und personeller Ebene fort. Beispielsweise wurde die polizeiliche Erfassung ab den 1960er Jahren in den sogenannten Landfahrerzentralen weiter geführt. Die während des Nationalsozialismus Verfolgten hatten jahrzehntelang keinen Anspruch auf finanzielle Entschädigung, da die rassistische Dimension der nationalsozialistischen Verfolgung nicht anerkannt wurde.

Aktuelle Erscheinungsformen

Die Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung hat vielfältige Spuren hinterlassen, bei den Betroffenen und ihren Angehörigen, aber auch in der Mehrheitsgesellschaft. Erst die in den 1970er Jahren entstehende Bürgerrechtsbewegung hat die Öffentlichkeit für eine kritische Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Genozid und eine Würdigung dieser Opfergruppe geschaffen. In diesem Zusammenhang kommt insbesondere der Gedenkfeier in der Gedenkstätte Bergen-Belsen im Oktober 1979 eine wichtige Bedeutung zu.

Jedoch werden Sinti/Sintize und Roma/Romnja heutzutage noch immer vielfach als fremd und nicht angepasst wahrgenommen – die lang tradierten Bestandteile dieses „Zigeuner“-Bildes sind noch immer wirksam. Abwertende Zuschreibungen, aber auch romantisierende Bilder, etwa von einer vermeintlichen „Freiheit“ und „Ungebundenheit“, sind weit verbreitet und werden medial und kulturell vielfach reproduziert. Repräsentative sozialwissenschaftliche Studien verweisen auf Zustimmungswerte zu diskriminierenden Einstellungen gegenüber Sinti/Sintize und Roma/Romnja bei der deutschen Bevölkerung von bis zu 55 Prozent, beispielsweise zur Aussage „Sinti und Roma neigen zur Kriminalität“. Im Zusammenhang mit der EU-Osterweiterung und den Diskussionen um die Freizügigkeit für Arbeitnehmer_innen hat sich eine ressentimentbeladene Debatte um die sogenannte Armutsmigration entfaltet, in der bekannte antiziganistische Bilder und Zuschreibungen von Armut, Kriminalität, Schmutz usw. reproduziert werden.

In der Debatte werden soziale Probleme entlang ethnischer und kultureller Zugehörigkeiten bzw. Zuschreibungen verhandelt. Als marginalisierter Minderheit bleibt den Roma und Romnja in vielen europäischen Ländern der Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen verwährt. Diese antiziganistischen Ressentiments stellen eine reale Bedrohung für die Betroffenen dar – insbesondere in Südosteuropa gab es in den letzten Jahren wiederholt rassistisch motivierte Angriffe gegen Roma und Romnja.

Im Sprechen über die Personengruppen zeigt sich häufig, dass diese als einheitliche Gruppe mit wesenhaften Merkmalen dargestellt werden, was die Diversität und Realität von Lebensweisen der Sinti/Sintize und Roma/Romnja verkennt.

Pädagogische Ansätze

Mit Blick auf die Aktualität antiziganistischer Ressentiments und Diskriminierung stellen sich Fragen nach den Möglichkeiten der Prävention und nach Ansatzpunkten für eine pädagogische Arbeit. Eine Sensibilität hinsichtlich der eigenen gesellschaftlichen Position wie auch eine selbstkritische Auseinandersetzung mit möglichen eigenen antiziganistischen Ressentiments ist hierbei grundlegend. Auf gesamtgesellschaftlicher Ebene sind daran Fragen nach dem Umgang mit gesellschaftlichen Minderheiten und möglichen abweichenden Lebensformen geknüpft: Welches Bild von einer gleichberechtigten und diskriminierungsarmen Gesellschaft habe ich? Was bedeutet dies für den Umgang mit Heterogenität? Neben der Auseinandersetzung mit den Stereotypen und Formen der Diskriminierung in der Mehrheitsgesellschaft ist es wichtig, die Position von Betroffenen zu stärken und insbesondere Interessenvertretungen von Roma/Romnja und Sinti/Sintize in die pädagogische Praxis einzubeziehen.

Die Verfolgung der Sinti und Roma im Nationalsozialismus und deren Kontinuitäten nach 1945 stellen einen wichtigen Bezugspunkt einer kollektiven Identität der Betroffenen und deren Nachkommen dar. In der historisch-politischen Bildungsarbeit eignen sich dabei unter anderem biografische Zugänge, worüber auch Bezugspunkte zur Gegenwart hergestellt werden können. Als Beispiel sei an dieser Stelle auf die Geschichte von Otto Rosenberg hingewiesen: Otto Rosenberg überlebte die Lager in Auschwitz-Birkenau, Buchenwald und Mittelbau-Dora, wurde im April 1945 im Konzentrationslager Bergen-Belsen befreit und hat den Landesverband der Sinti und Roma Berlin-Brandenburg mit aufgebaut. Über regionale Perspektiven können weiterhin lokale Bezüge hergestellt werden. Eine Verknüpfung historischer und gegenwartsbezogener Perspektiven ist in der Auseinandersetzung mit dem Themenfeld Antiziganismus sinnvoll, um die Kontinuitäten und Funktionsweisen der Diskriminierung wie auch ihre Aktualität aufzuzeigen. Dieser Ansatz wird beispielsweise im Seminar „Antiziganismus. Von der Verfolgung der Sinti und Roma im Nationalsozialismus bis heute“ umgesetzt.

Weiterführende Literatur

Alte Feuerwache e.V. (Hg.),
Methodenhandbuch zum Thema Antiziganismus für die schulische und außerschulische Bildungsarbeit,
Unrast, Münster 2014.

Markus End/Kathrin Herold/Yvonne Robel (Hg.),
Antiziganistische Zustände. Zur Kritik eines allgegenwärtigen Ressentiments,
Unrast, Münster 2009.

Alexandra Bartels u. a. (Hg.),
Antiziganistische Zustände 2. Kritische Positionen gegen gewaltvolle Verhältnisse,
Unrast, Münster 2013.

Gedenkstätte Neuengamme (Hg.),
Die Verfolgung der Sinti und Roma im Nationalsozialismus.
Edition Temmen, Bremen 2012 (Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland, Bd. 14).

Michael Zimmermann,
Rassenutopie und Genozid. Die nationalsozialistische „Lösung der Zigeunerfrage“,
Christians, Hamburg 1996.

Empfohlene Zitierweise

Franziska Göpner: Antiziganismus (2015). In: Geschichte.Bewusst.Sein.de, URL: https://geschichte-bewusst-sein.de/antiziganismus/ [Zugriffsdatum]