Biografische Zugänge in der historisch-politischen Bildung an Gedenkstätten

In der historisch-politischen Bildung zum Nationalsozialismus und Holocaust haben sich biografische Zugänge zu einem wichtigen Ansatz der Vermittlung komplexer historischer Prozesse entwickelt. Der Text stellt einen thematischen Aufriss dar, diskutiert grundlegende Fragen und Herausforderungen in der pädagogischen Arbeit mit solchen Quellen und nimmt insbesondere die Rolle von Zeitzeug_innen genauer in den Blick.

von Franziska Göpner

Was sind biographische Quellen?

Biografische Zugänge ermöglichen eine Vermittlung der Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocaust, die jenseits von Institutionen, Strukturen oder Gesetzen den Blick auf Menschen, deren Handlungen und Entscheidungen richtet. Geschichte wird von Menschen gemacht und hat gleichzeitig wiederum Auswirkungen auf deren Leben und Handlungen. Im Kontext der historisch-politischen Bildung an und im Umfeld von NS-Gedenkstätten hat sich die Arbeit mit Biografien zu einem wichtigen Zugang entwickelt. Biografische Quellen sind gekennzeichnet durch einen erfahrungsgeschichtlichen Ansatz und umfassen eine Vielzahl unterschiedlicher Dokumente, für die eine subjektive Perspektive auf ein historisches Geschehen charakteristisch ist. Dazu zählen beispielsweise Tagebücher, Briefe, Fotografien, Erinnerungsberichte, Zeichnungen oder auch Gespräche und Videointerviews mit Zeitzeug_innen. Eines der bekanntesten Schriftbeispiele ist das „Tagebuch der Anne Frank“, das 2009 von der UNESCO in das Weltdokumentenerbe aufgenommen worden ist.

Biografische Quellen geben neben der Darstellung und Analyse historischer Ereignisse und Abläufe insbesondere auch Auskunft über die persönlichen Erlebnisse und Erfahrungen von Menschen, die zu dieser Zeit gelebt haben. Sie bieten einen Zugang zu persönlichen Geschichten und stellen gleichzeitig ein Zeugnis von Erfahrungen und Erlebnissen dar. Speziell zeitgenössische Tagebücher geben die Perspektive und Gedanken des/der Autor_in zum konkreten Zeitpunkt des historischen Geschehens wieder und ermöglichen damit einen scheinbar unmittelbaren Einblick in die Erfahrungswelt der berichtenden Person. Solche Berichte zeigen auf, was der/die Zeitzeug_in gedacht, erinnert und empfunden, wie er oder sie eine Situation erlebt und sich in ihr verhalten hat.

Tagebuch der als Jüdin verfolgten Niederländerin Renata Laqueur, verfasst im Konzentrationslager Bergen-Belsen, Eintrag vom 4. Mai 1944. Foto: Stiftung niedersächsische Gedenkstätten/Gedenkstätte Bergen-Belsen

Tagebuch der als Jüdin verfolgten Niederländerin Renata Laqueur, verfasst im Konzentrationslager Bergen-Belsen, Eintrag vom 4. Mai 1944. Foto: Stiftung niedersächsische Gedenkstätten/Gedenkstätte Bergen-Belsen

 

Darüber hinaus wurden einige Tagebücher aus der Zeit des Nationalsozialismus und des Holocaust bereits mit dem Ziel verfasst, ein Dokument für die Nachwelt zu überliefern und damit auch die Verbrechen zu bezeugen. Erinnerungsberichte wie auch Audio- und Videointerviews mit Zeitzeug_innen sind hingegen gekennzeichnet von einer rückblickenden Perspektive auf ein historisches Geschehen, die häufig überformt ist von nachträglichen und gegenwärtigen Erfahrungen, Gedanken, Deutungen und auch dem Umgang mit der eigenen Geschichte. Die zeitliche Distanz zu den Erlebnissen hat einen Einfluss auf deren Darstellung. Solche Dokumente können die Möglichkeit bieten, Fragen nach den Nachwirkungen der Geschichte des Nationalsozialismus in der Gegenwart wie auch Funktionsweisen des Erinnerns und Nicht-Erinnerns zu thematisieren. Im Folgenden werden einige pädagogische Zugänge und Herausforderung im Umgang mit biografischen Quellen diskutiert.

Rolle der Zeitzeug_innen

Gespräche und Berichte von Zeitzeug_innen stellen eine spezifische Form eines biografischen Zugangs dar und finden seit vielen Jahren großen Zuspruch in der historischen Bildung zum Nationalsozialismus. Direkte Begegnungen mit Zeitzeug_innen werden vor dem Hintergrund eines nahenden Endes der Zeitzeug_innenschaft immer seltener. Der Begriff des/der Zeitzeug_in umfasst in einem weiteren Verständnis eine Person, die ein historisches Ereignis selbst erlebt hat und darüber berichten kann. Im Rahmen der Geschichtswissenschaft und Erinnerungskultur ist der Begriff jedoch eng geknüpft an Überlebende des Nationalsozialismus und Holocaust. Zeitzeug_innen und deren Berichte sind verbunden mit einer Vorstellung von Authentizität des Erlebten. Mehr noch − Zeitzeug_innen bekommen mit Blick auf die historischen Ereignisse oft die Funktion einer moralischen Instanz zugesprochen. Sie nehmen jedoch eine vermittelnde Position zwischen Vergangenheit und Gegenwart ein, das heißt die Gegenwart hat Einfluss auf die historische Erzählung und deren Deutungen. Dieser Konstruktionscharakter von Geschichte sollte sowohl im Rahmen einer Begegnung, als auch mit Blick auf die pädagogische Arbeit mit Quellen von Zeitzeug_innen berücksichtigt werden, ohne den Wahrheitsgehalt der gemachten Erfahrungen in Frage zu stellen.

Die Begegnung mit einem/einer Zeitzeug_in ist eine besondere Form der Interaktion, die von sehr verschiedenen Perspektiven, Erfahrungen und meist einer großen Differenz im Lebensalter geprägt ist. Aus pädagogischer Perspektive ist es wichtig, die Teilnehmer_innen eines solchen Gesprächs im Vorfeld intensiv vorzubereiten, sowohl mit Blick auf Wissen über die historischen Zusammenhänge wie auch erste biografische Informationen zur Person und Fragen der Bedeutung und Funktionsweisen von Erinnerungen. Der Bericht einer/eines Überlebenden als Zeugnis braucht ein Gegenüber, der/die dieses Zeugnis annimmt und weiter trägt. Somit stellen die konkrete Gesprächssituation, die Bereitschaft des Zuhörens aber auch das gesellschaftliche Umfeld wichtige Voraussetzungen eines solchen Zeitzeug_innenberichts dar. Neben der Vor- ist dabei auch die Nachbereitung einer solchen Begegnung wichtig, um Fragen zu klären und auch mit emotionalen Stimmungen angemessen umgehen zu können.

Schüler_innen der Janusz Korczak Schule Wathlingen im Gespräch mit Fanny Heymann, Zeitzeugin und Überlebende des Konzentrationslagers Bergen-Belsen, 2009. Foto: Katrin Unger, Stiftung niedersächsische Gedenkstätten

Schüler_innen der Janusz Korczak Schule Wathlingen im Gespräch mit Fanny Heymann, Zeitzeugin und Überlebende des Konzentrationslagers Bergen-Belsen, 2009. Foto: Katrin Unger, Stiftung niedersächsische Gedenkstätten

 

Aus einer pädagogischen Perspektive und mit Blick auf unterschiedliche Zielgruppen ist die Arbeit mit biografischen Zugängen und Materialien sehr wertvoll und bildet einen wichtigen Bestandteil einer reflektierten und kritischen historischen Auseinandersetzung. Darüber hinaus kommen diesen Dokumenten in geschichtswissenschaftlicher und erinnerungspolitischer Perspektive eine zentrale Bedeutung für die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik und insbesondere auch der Erinnerung an die Opfer zu.

Multiperspektivität

Häufig werden biografische Quellen als Ergänzung zu einer faktenbasierten und scheinbar objektiven Geschichtsdarstellung wahrgenommen, worüber Empathie mit den Opfern der nationalsozialistischen Verbrechen gefördert werden soll. Dieser – lediglich „illustrative“ – Ansatz greift jedoch zu kurz und wird dem Gehalt dieser Quellen nicht gerecht. Historisch-politische Bildung hat die Vermittlung eines differenzierten Geschichtsbildes und kritischen Geschichtsbewusstseins zum Ziel, was beispielsweise durch den Einsatz vielfältiger Materialien und Quellen erreicht werden kann. Diese Multiperspektivität umfasst weiterhin eine Annäherung und Auseinandersetzung mit dem historischen Komplex des Nationalsozialismus und Holocaust mit verschiedenen thematischen Schwerpunkten und unter Einbeziehung unterschiedlicher Blickrichtungen.

Insbesondere an KZ-Gedenkstätten hat der Einsatz biografischer Quellen in der historisch-politischen Bildung zum Nationalsozialismus häufig die Perspektive der Opfer und Verfolgten im Fokus. Dabei steht neben der Auseinandersetzung mit den Dynamiken und Ideologien der Verfolgung auch die Erinnerung und Würdigung der Opfer im Zentrum. Aus pädagogischer Perspektive ist es außerdem entscheidend, die Menschen nicht auf ihre Rolle als Opfer zu reduzieren, sondern in ihren Persönlichkeiten und mit ihren Entscheidungen wahrzunehmen. Biografische Quellen ermöglichen einen Zugang zu den Auswirkungen und Folgen der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik, die bis in die Gegenwart hineinreichen und deutlich machen, dass die Geschichte 1945 nicht geendet hat.

Multiperspektivität kann auch durch den Einsatz von Quellen unterschiedlicher Gruppen und Personen erreicht werden, die beispielsweise als Juden/Jüdinnen, Sinti/Sitize, Roma/Romnija oder auch Homosexuelle verfolgt worden sind. Dieses Nebeneinander unterschiedlicher Geschichten trägt zu einem umfassenderen Verständnis der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik bei und verdeutlicht deren globale Reichweite. Mit Blick auf eine Realität der Migrationsgesellschaft kann beispielsweise über unterschiedliche Herkunftsländer der Verfolgten ein Anknüpfungspunkt für Jugendliche und deren eigene Zugehörigkeiten geschaffen werden, ohne dabei Zuschreibungen zu reproduzieren.

Aus pädagogischer Sicht ist es neben der Beschäftigung mit den Erfahrungen der Opfer und Verfolgten auch sinnvoll, die Perspektive der Täter_innen einzubeziehen, um unterschiedliche Handlungsmotive und Hintergründe zu thematisieren. Damit kann deutlich gemacht werden, dass die nationalsozialistischen Verbrechen von Menschen geplant und umgesetzt worden sind, die aus Überzeugung, Opportunismus, Karrierestreben oder auch einfach „nur“ Gleichgültigkeit gehandelt haben. Darüber hinaus beziehen die Positionen der Zuschauer_innen oder Bystanders Perspektiven jenseits einer Opfer-/Täter_innen-Dichotomie ein und ermöglichen es, Handlungsspielräume von Einzelnen zu thematisieren, die von aktiver Unterstützung des NS-Systems und Denunziation bis hin zu kleinen Beispielen für Unterstützung und Widerstand reichen.

Fotografie (Ausschnitt) von Zeichnungen aus dem „Bilder-Tagebuch“ der als Jüdin verfolgten Ungarin Zsuzsa Merényi (vormals Susanne Schuller). Ein Großteil der mehr als 120 Einzelbilder entstand während ihrer Haft im Konzentrationslager Bergen-Belsen. Foto: Stiftung niedersächsische Gedenkstätten/Gedenkstätte Bergen-Belsen

Fotografie (Ausschnitt) von Zeichnungen aus dem „Bilder-Tagebuch“ der als Jüdin verfolgten Ungarin Zsuzsa Merényi (vormals Susanne Schuller). Ein Großteil der mehr als 120 Einzelbilder entstand während ihrer Haft im Konzentrationslager Bergen-Belsen. Foto: Stiftung niedersächsische Gedenkstätten/Gedenkstätte Bergen-Belsen

Anmerkungen zum quellenkritischen Arbeiten

Wie in der historisch-politischen Bildung generell ist auch in der pädagogischen Arbeit mit biografischen Materialien eine quellenkritische Perspektive grundlegend. Die Auswahl der Quellen und deren Einbettung in den pädagogischen Rahmen sind abhängig von der jeweiligen Gruppe, deren Zusammensetzung, Hintergründe und dem spezifischen historischen Vorwissen. Eine quellenkritische Herangehensweise bezieht den Entstehungskontext und -hintergrund des Dokuments mit ein und macht die Subjektivität der Darstellung deutlich. Weiterhin ist es sinnvoll, Informationen über den/die Autor_in der Quelle zur Verfügung zu stellen, beispielsweise über das Alter, den familiären Hintergrund, die Herkunft bzw. den geografischen und politischen Kontext. Da bei Video- oder Audiointerviews immer nur der Ausschnitt einer deutlich längeren Erzählung wiedergegeben werden kann, sind eine bewusste Auswahl und die Einbettung in den gesamten Gesprächsrahmen wichtig.

Im Zusammenhang mit biografischen Quellen von Opfern und Überlebenden der nationalsozialistischen Verbrechen ist häufig von Empathie die Rede, womit die Offenheit zur Perspektivübernahme und das Sich-Einlassen auf die Geschichte und Erfahrungen der Person bezeichnet werden soll. Empathie meint dagegen keine Identifizierung mit der Person (sowohl durch den/die Pädagog_in, als auch die Teilnehmer_innen) bzw. keine zu starke Emotionalisierung der historischen Darstellung, die einer kritischen Vermittlung entgegensteht und insbesondere auf Jugendliche überfordernd wirken kann.

Es gibt Erinnerungen von Überlebenden, die nachgewiesenen historischen Tatsachen scheinbar widersprechen. Mit Blick auf eine quellenkritische Herangehensweise stellt sich hier jedoch nicht die Frage nach dem („Fakten-„)Wahrheitsgehalt eines solchen Berichts. Stattdessen kann in solchen Fällen eine Auseinandersetzung mit den Funktionsweisen von Erinnerungen und Verdrängen bzw. der Suche nach individuellen Erklärungen der Erlebnisse und Erfahrungen angeschlossen werden.

Die Arbeit mit biografischen Quellen von Täter_innen ist mit besonderen pädagogischen Herausforderungen verbunden. Die Einbeziehung solcher Dokumente kann einer Dämonisierung der Täter_innen und Taten vorbeugen und deutlich machen, dass es sich um „ganz normale Menschen“ gehandelt hat. Insbesondere mit Blick auf die Gruppe und deren Zusammensetzung ist jedoch eine hohe Sensibilität hinsichtlich der Auswahl der Dokumente gefragt. In der pädagogischen Arbeit sollten beispielsweise stigmatisierende und rassistische Begrifflichkeiten in der Sprache thematisiert wie auch mögliche Verteidigungs- bzw. Entlastungsstrategien der Person aufgezeigt werden.

Weiterführende Literatur

Michael Elm/Gottfried Kößler (Hg.),
Zeugenschaft des Holocaust. Zwischen Trauma, Tradierung und Ermittlung,
Frankfurt am Main 2007.

Friedhelm Boll,
Zeitzeugenschaft als historische Quelle, in: Rainer Schulze/Wilfried Wiedemann (Hg.), AugenZeugen. Fotos, Filme und Zeitzeugenberichte in der neuen Dauerausstellung der Gedenkstätte Bergen-Belsen. Hintergrund und Kontext,
Stiftung niedersächsische Gedenkstätten 2007, S. 103-131.

Diana Gring/Karin Theilen,
Fragmente der Erinnerung, in: Rainer Schulze/Wilfried Wiedemann (Hg.), AugenZeugen. Fotos, Filme und Zeitzeugenberichte in der neuen Dauerausstellung der Gedenkstätte Bergen-Belsen. Hintergrund und Kontext,
Stiftung niedersächsische Gedenkstätten 2007, S. 153-219.

Franziska Ehricht/Elke Gryglewski,
GeschichteN teilen. Dokumentenkoffer für eine interkulturelle Pädagogik zum Nationalsozialismus,
Berlin 2009.

Martin Sabrow/Norbert Frei (Hg.),
Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945,
Göttingen 2012.

Jens-Christian Wagner,
Zeitzeugen ausgestellt. Die Nutzung von Interviews in Museen und KZ-Gedenkstätten, in: Nicolas Apostolopoulos/Cord Pagenstecher (Hg.), Erinnern an Zwangsarbeit. Zeitzeugen-Interviews in der digitalen Welt,
Berlin 2013, S. 59-67.

Empfohlene Zitierweise

Franziska Göpner: Biografische Zugänge in der historisch-politischen Bildung an Gedenkstätten (2015). In: Geschichte.Bewusst.Sein.de, URL: https://geschichte-bewusst-sein.de/biografische-zugaenge-in-der-historisch-politischen-bildung-an-gedenkstaetten/ [Zugriffsdatum]