Geschichtsbewusstsein

Handelt es sich bei „Geschichte“ um kulturell geprägte Repräsentationen von Vergangenem, so bedeutet „Geschichtsbewusstsein“ deren individuelle Vergegenwärtigung, die beeinflusst ist von Gegenwartserfahrungen und Zukunftserwartungen. Vor allem im Sinne einer Fähigkeit zu kritisch-reflexivem Geschichtslernen ist der Begriff in den vergangenen Jahrzehnten zur zentralen Kategorie der Geschichtsdidaktik geworden, verstärkt durch das öffentliche und mediale Interesse an Geschichte und ihren historischen Orten.

von Habbo Knoch

Geschichtsbewusstsein und Geschichtskultur

In einem weiten Verständnis meint „Geschichtsbewusstsein“ den temporalen Horizont aller Erkenntnis des und über den Menschen: das Bewusstsein des Zusammengehörens von Gewordenheit, Sein und Werden. In einem engeren Sinne lenkt „Geschichtsbewusstsein“ den Blick jedoch auf das Zusammenspiel zwischen kollektiven Repräsentationen von Vergangenheit einerseits und deren Rezeption durch das Individuum und seine historische Sinnbildung andererseits. Es handelt sich um die „Interaktion und Integration verschiedener kognitiver und affektiver Hinwendungen zum geschichtlichen Gegenstand“ (Karl-Ernst Jeismann).

Zunächst setzte sich seit den 1970er Jahren vor allem in der Geschichtsdidaktik die Auffassung durch, dass eine demokratieorientierte Vermittlung von vergangenem Geschehen zu einer kritischen Auseinandersetzung und autonomen Reflexion statt zu einem affirmativen Lernen von vorgegebenen (nationalen) Identitätstraditionen anleiten muss. Grundlage dafür ist die Überzeugung, dass Darstellungen von Vergangenheit nicht nur Rekonstruktionen auf der Basis von Quellen sind, sondern auch Deutungen und Sinnstiftungen enthalten, die durch ihre jeweilige Gegenwart, deren Moral und Werte sowie durch Interessen und gesellschaftliche Ordnungen des Wissens geprägt sind. Vor diesem Hintergrund stellt das Konzept eines kritisch-reflexiven Geschichtsbewusstseins jeden Anspruch auf eine überparteiliche und überzeitliche Objektivität von historischen Repräsentationen ebenso in Frage wie den Anspruch einer heteronomen Geschichtsvermittlung.

Dementsprechend wird individuelles Geschichtsbewusstsein als eine zu bildende psychische, antimanipulative Instanz begriffen, um die immanenten Deutungen und Sinnstiftungen von „Geschichte“ zu erkennen. Befähigt zu Differenzierung, Reflexivität, Prozessualität und Multiperspektivität kann das Individuum zu einem reflektierten eigenen Geschichtsbild gelangen, um das Gewesene und Gewordene selbst in kritischer Absicht analysieren zu können. Daraus resultiert ein fundiertes Verständnis der Vergangenheit als Basis und im dynamischen Wechselspiel mit einem Orientierungswissen für das eigene Handeln in Gegenwart und Zukunft.

War Geschichtsbewusstsein dabei zunächst vor allem eine didaktische Kategorie für schulische Lernprozesse, hat sich ihr Bedeutungskreis inzwischen auf die Geschichtskultur insgesamt erweitert. Sie beinhaltet alle Umgangsformen einer Gesellschaft mit Vergangenem, neben der Schule auch wissenschaftliche und museale, mediale und familiäre. Teilbereiche sind in den vergangenen Jahren dabei unter Konzepten wie „kulturelles Gedächtnis“, „Erinnerungskultur“ oder „Geschichtspolitik“ besonders akzentuiert worden. Dies ging mit der Zunahme medialer und musealer Vergegenwärtigungen von Vergangenem – nicht zuletzt durch außerschulische Lernorte wie Gedenkstätten – einher. Sie haben emotionale und ästhetische Aspekte verstärkt als eigenständige Faktoren historischer Sinnbildung betonen lassen. Wie sich diese zu Kognition und Reflexion verhalten, ist zusammen mit der Entwicklung von Geschichtsbewusstsein im Lebensverlauf und ihren sozialen Bedingungen eine zentrale Frage der gegenwärtigen geschichtsdidaktischen Forschung.

Kompetenzbasiertes Geschichtsbewusstsein

Die Besonderheit des Geschichtsbewusstseins rührt aus der Kontingenz von Zeitlichkeit her: Vergangene Erfahrungen bieten keine Gewähr für taugliche Zukunftsprognosen, historische Kenntnisse begründen keine Gesetzmäßigkeiten. Dadurch wird Geschichte anfällig für selektive Deutungen, die etwa der Legitimation von sozialen Interessen oder geschichtspolitischen Zwecken dienen. Diese werden wiederum nicht durch eine Geschichtsvermittlung hinterfragt, in der die Relevanz ihres jeweiligen Gegenstands – zum Beispiel durch bestimmte, als bedeutsam gewichtete Ereignisse – bereits gesetzt ist.

Darum hat der Ansatz des kompetenzorientierten Geschichtslernens in den letzten Jahren den Blick vor allem auf die notwendigen Fähigkeiten gelenkt, um ein kritisch-reflexives Verhältnis zur Geschichte gewinnen zu können. Hier steht das sich selbst verzeitlichende Ich mit der Erkenntnis im Zentrum, selbst Teil eines dynamischen Verhältnisses von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu sein und es durch sein eigenes Handeln mit zu gestalten. Vor diesem Hintergrund haben biographische, lokale und situative Lernansätze an Bedeutung gewonnen, weil sie den Bezug zwischen Erkenntnissubjekt und historischen Prozessen erleichtern sowie zur lebensweltlichen Verankerung von historischen Erkenntnissen beitragen.

Ausgehend von der je eigenen Zeitlichkeit soll das Interesse für die generelle historische Bedingtheit von Gegenwart und Zukunft geweckt werden. Dazu bedarf es, wie vor allem Andreas Körber und Waltraud Schreiber herausgearbeitet haben, der Entwicklung von Frage-, Methoden-, Orientierungs- und Sachkompetenzen. Grundlage der historischen Sinnbildung ist demnach, bestehende Vergangenheitsrepräsentationen kritisch zu befragen, das Verhältnis von Vergangenheit, Quellen und Geschichte methodisch angemessen zu analysieren, das eigene ebenso wie das kollektive Geschichtsbewusstsein zu reflektieren und zu kontextualisieren sowie über einen objektivierenden Begriffsapparat zu verfügen.

Mit Bodo von Borries wird dabei der kritisch-reflexive Umgang mit Geschichte erst auf der biographisch letzten Entwicklungsstufe des Geschichtsbewusstseins erreicht. Dieser Ebene der handlungsleitenden Erkenntnis gehen „unbewusste Präsenz“, „diffuse Beschäftigung“ und „ausdrückliche Auseinandersetzung“ voraus. Letztlich beinhaltet dieses biographisch-genetische ebenso wie das reflexiv-kompetenzorientierte Modell von Geschichtsbewusstsein, die affektiven, emotionalen und ästhetischen Momente historischer Sinnbildung durch die kognitiv-reflexiven Komponenten zu kontrollieren beziehungsweise sie auf eine höhere Stufe der historischen Erkenntnis zu heben. Näher an der bewussten Integration der affektiven Dimension von Geschichte bewegt sich hingegen der Ansatz narrativer Kompetenzbildung in Anlehnung an Jörn Rüsens Theorie des historischen Erzählens. Demnach sind Sinnbildungsprozesse als „gedeutete Zeiterfahrung“ sinnhaft nur durch Narrationen zu gewinnen und zu vermitteln: Historisches Erzählen ist hier selbst nicht nur eine identitätsstiftende, sondern auch eine zivilisierende Fundamentalkategorie des historischen Bewusstseins.

Geschichtsbewusstsein und moralisches Lernen

Bildungsinstitutionen wie Schulen oder Gedenkstätten gründen in demokratischen Gesellschaften auf dem Anspruch, affektive, kognitive und normative Grundlagen einer zivilen Gesellschaft zu vermitteln, die sich auf die Unantastbarkeit der Bürgerrechte und auf die universale Geltung von Menschenrechten stützt. Bei Schulen in postdiktatorischen Gesellschaften ist es dieses Ethos, bei Gedenkstätten die Institution selbst, die aus den Auseinandersetzungen mit einer unmoralischen und unrechtlichen politischen Ordnung erwachsen ist. Ihr Auftrag ist explizit oder implizit affirmativ zu den Idealen der neuen Werteordnung formuliert – ein Modell, das nicht zuletzt im Kontext plurikultureller, migrationsgeprägter Gesellschaften und der Debatte um ein „globales Geschichtsbewusstsein“ kritisch beleuchtet wird.

Wie verhält sich aber zu diesem Auftrag der Ansatz des kritisch-reflexiven Geschichtsbewusstseins? Zum einen führt die Erfahrung von Lernorten des vergangenen Terrors zu einer deutlichen Aufwertung der emotionalen Dimension historischen Lernens. Dies gilt sowohl für den Umgang mit Überwältigungserfahrungen und Banalisierungsversuchen wie für die affektiv fundierte Kompetenz reflektierter Empathie. Zum anderen aber stellt ein Geschichtsbewusstsein, das sich als nicht-affirmative Form der Auseinandersetzung mit Vergangenheitsrepräsentationen versteht, eine Herausforderung für identitätsstiftende Lernorte dar, deren Bedeutung durch einen gesellschaftlichen und politischen Konsens gesetzt ist.

Für die Arbeit in Gedenkstätten folgt daraus, dass historisches Wissen nicht als Grundlage für eine moralische Belehrung dienen darf, die von der gesetzten Bedeutung ihrer Zielinhalte ausgeht. Vielmehr erfordert die Diskontinuität historischer Erfahrungen durch die Zerstörung moralischer und affektiver Grundlagen einer zivilen Gesellschaft im Nationalsozialismus, das kompetenzorientierte Geschichtslernen situativ zu wenden und die historisch-moralische Urteilskompetenz an konkreten Entscheidungssituationen zu bilden. Dadurch werden Menschlichkeit und Unmenschlichkeit als kontingente, aber jeweils unterschiedlich motivierte und bedingte Verhaltensweisen sichtbar und konkret.

Die Entwicklung von Geschichtsbewusstsein ist dabei auch auf Möglichkeiten angewiesen, vermeintlich unangemessene Fragen zu stellen, damit die Vermittlung von Geschichte in bester Absicht nicht selbst dem Vorwurf anheim fällt, nur ein politisch und gesellschaftlich konsensuales, „korrektes“ Geschichtsbild verankern zu wollen. Weder das Potenzial der emotionalen Überwältigung in Gedenkstätten, noch der schmerzhafte Charakter solcher Fragen sollten daran hindern, ihnen den nötigen Raum zu eröffnen und diesen produktiv zu gestalten. Denn Geschichtsbewusstsein und damit auch zivilisatorische Identität wachsen nicht zuletzt aus den selbst erkannten Widersprüchen und Grenzen der historischen Erkenntnis.

Ausgewählte Literatur

Michele Barricelli,
Schüler erzählen Geschichte. Narrative Kompetenz im Geschichtsunterricht,
Schwalbach/Ts. 2005.

Bodo von Borries,
Geschichtslernen und Geschichtsbewußtsein. Empirische Erkundungen zu Erwerb und Gebrauch von Historie,
Stuttgart 1988.

Andreas Heuer,
Geschichtsbewusstsein. Entstehung und Auflösung zentraler Annahmen westlichen Geschichtsdenkens,
Schwalbach/Ts. 2011.

Andreas Körber, Waltraud Schreiber, Alexander Schöner  (Hg.),
Kompetenzen Historischen Denkens. Ein Strukturmodell als Beitrag zur Kompetenzorientierung in der Geschichtsdidaktik,
Neuried 2007.

Karl-Ernst Jeismann,
Geschichtsbewußtsein als zentrale Kategorie der Geschichtsdidaktik, in: Gerhard Schneider (Hg.),
Geschichtsbewußtsein und historisch-politisches Lernen,
Pfaffenweiler 1988, S. 1-24.

Hans-Jürgen Pandel,
Dimensionen des Geschichtsbewusstseins. Ein Versuch, seine Struktur für Empirie und Pragmatik diskutierbar zu machen, in:
Geschichtsdidaktik 12 (1987), S. 130-142.

Hans-Jürgen Pandel,
Geschichtsdidaktik,
Schwalbach/Ts. 2013.

Jörn Rüsen,
Historisches Lernen. Grundlagen und Paradigmen,
2., überarb. Auflage, Schwalbach/Ts. 2008.

Empfohlene Zitierweise

Habbo Knoch: Geschichtsbewusstsein (2015). In: Geschichte.Bewusst.Sein.de, URL: https://geschichte-bewusst-sein.de/geschichtsbewusstsein/ [Zugriffsdatum]