Stichwort: Inklusion

Der Begriff Inklusion wird derzeit in vielfältigen gesellschaftlichen Zusammenhängen diskutiert. Insbesondere für den Kontext Schule gibt es Vorgaben und Empfehlungen, wie der Anspruch auf Inklusion, der gemeinsame Unterricht aller Schüler_innen, umzusetzen ist. Studien verweisen auf die Wirkungen inklusiver Bildung für alle Kinder und Jugendlichen im Hinblick auf ihre kognitive und emotionale Entwicklung. Instrumente wie der Index für Inklusion geben Kriterien, wie in Bildungsinstitutionen dieser Anspruch umgesetzt werden kann.

von Claudia Schomaker

Inklusion – zur Herkunft des Begriffs

Gegenwärtig wird der Begriff Inklusion in der Gesellschaft kontrovers diskutiert. Erstmals wird er in der Salamanca-Erklärung „Pädagogik für besondere Bedürfnisse: Zugang und Qualität“ verwendet. In Salamanca fand im Jahr 1994 die UNESCO-Weltkonferenz statt, die das Ziel hatte, politische Beschlüsse für eine ,Bildung für alle‘ auf den Weg zu bringen. So sollten insbesondere Schulen darin unterstützt werden, allen Kindern mit ihren spezifischen Bedürfnissen gerecht zu werden. Daher bezieht sich der Begriff Inklusion aus diesem Verständnis heraus auf alle Menschen und im Besonderen auf alle Kinder. In der Salamanca-Erklärung heißt es wörtlich: „[…] dass Schulen alle Kinder, unabhängig von ihren physischen, intellektuellen, sozialen, emotionalen, sprachlichen oder anderen Fähigkeiten aufnehmen sollen. Das soll behinderte und begabte Kinder einschließen, Straßen- sowie arbeitende Kinder, Kinder von entlegenen oder nomadischen Völkern, von sprachlichen, kulturellen oder ethnischen Minoritäten sowie Kinder von anders benachteiligten Randgruppen oder –gebieten“ (UNESCO 1994, zitiert nach Allemann-Ghionda 2013, 126).

Im Jahr 2006 wurde die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung verabschiedet. Diese greift den Begriff der Inklusion auf und fokussiert ihn besonders auf die Belange von Menschen mit Behinderungen. Deutschland ratifizierte die UN-Konvention im Jahr 2009 und verpflichtete sich damit, auf allen gesellschaftlichen Ebenen die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen umzusetzen und zu sichern. Auf diese Weise beginnt sich der Begriff der Inklusion bildungspolitisch durchzusetzen.

Eine einheitliche Definition des Begriffs lässt sich derzeit in der deutschen Fachdiskussion nicht erkennen. So sei hier auf den Bericht des UN-Sonderberichterstatters Vernor Munoz für die Jahre 2004-2007 verwiesen, der das „Konzept der inklusiven Pädagogik“ (Lindmeier/Lindmeier 2012, 180) auch vor dem Hintergrund einer weltweit zu verzeichnenden Exklusion von Menschen mit Behinderungen aus dem allgemeinen Bildungssystem analysiert. Dennoch formuliert Munoz die Idee der Inklusion nicht allein mit dem Fokus auf Menschen mit Behinderungen: „Inklusive Pädagogik geht davon aus, dass jedes Kind einzigartige Eigenschaften, Interessen, Fähigkeiten und Lernbedürfnisse aufweist, und dass Lernende mit besonderem Lernunterstützungsbedarf Zugang zum allgemeinen Bildungssystem haben und dort mit Hilfe einer auf das einzelne Kind bezogenen Pädagogik erfasst werden müssen. Unter Berücksichtigung der Verschiedenheit der Lernenden strebt Inklusive Pädagogik die Bekämpfung diskriminierender Haltungen, die Schaffung wertschätzender Gemeinschaften, die Verwirklichung einer Pädagogik für alle ebenso wie die Verbesserung der Qualität und Effektivität der Pädagogik für den Mainstream der Lernenden an“ (Munoz 2007, zitiert nach ebd.). Auch die ,Guidelines for Inclusion‘ der UNESCO unterstützen diese Sichtweise, indem sie „auf die Verschiedenheit der Bedürfnisse aller Lernenden durch Erhöhung der Teilhabe an Bildung, Kultur und Gesellschaft“ (ebd., 183) eingehen.

Zur Gestaltung und Umsetzung von Inklusion

Im pädagogischen Diskurs wird Inklusion als „Perspektive schulischer und unterrichtlicher Bearbeitung von Heterogenität“ (Sturm 2013, 126) verstanden, die damit Verschiedenheiten von Schüler_innen in einem weiten Verständnis als Bereicherung für Unterricht in den Blick nimmt. Die bildungspolitische Argumentation folgt diesen Ausführungen zögerlich. So bezogen sich der Beschluss der KMK aus dem Jahr 2011 sowie länderbezogene Gesetzgebungen in Bezug auf die schulische Umsetzung (u.a. Gesetz zur inklusiven Schule in Niedersachsen aus dem Jahr 2012) noch vornehmlich auf die Gruppe der Menschen mit Behinderungen: „In allen Lebensbereichen haben Menschen mit Behinderungen die gleichen und unveräußerlichen Rechte. Dies gilt auch für die schulische Bildung und bezieht sich auf den gleichberechtigten Zugang zu den Schulen und auf eine die Entwicklung des Einzelnen unterstützende Teilnahme am Unterricht und Teilhabe am Schulleben“ (KMK 2011, 2). Die aktuelle Empfehlung von HRK und KMK zur ,Lehrerbildung für eine Schule der Vielfalt‘ hebt jedoch hervor, dass es Ziel einer inklusiven Schule sei, „den bestmöglichen Bildungserfolg für alle Schülerinnen und Schüler zu ermöglichen, die soziale Zugehörigkeit und Teilhabe zu fördern und jedwede Diskriminierung zu vermeiden“ (HRK/KMK 2015, 2). Dabei gelte es, alle Dimensionen von Diversität zu berücksichtigen.

Nichtsdestotrotz wird die (schulische) Umsetzung von Inklusion gegenwärtig in Deutschland insbesondere mit Blick auf die Gruppe der Schüler_innen mit Behinderungen analysiert. So kommen die Autorinnen und Autoren der Bertelsmann-Studie aus dem Jahr 2014 zu dem Schluss, dass der Anteil von Schüler_innen mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf zunehme, der Anteil derjenigen, die inklusiv beschult werden, ansteige und die Zahl der Schüler_innen, die weiterhin eine Förderschule besuchen, unverändert sei (Bertelsmann Stiftung 2014, 6). Darüber hinaus würden nur wenige Schüler_innen mit einem Förderbedarf den Hauptschulabschluss erreichen (27,4% aller Förderschüler_innen). Die Autor_innen stellen fest, dass ein diagnostizierter Förderbedarf zwar offenbar nicht mehr automatisch den Besuch der Förderschule nach sich ziehe und somit das Prinzip der Inklusion in vielen Schulen umgesetzt werde (vgl. ebd., 4). Demgegenüber sei aber auch darauf zu verweisen, dass diese Entwicklungen nicht dazu führten, dass der Anteil von Förderschüler_innen zeitgleich zurückgehe und sich die Entwicklungen in den einzelnen Bundesländern zudem sehr unterschiedlich gestalten. Sie fordern daher, „eine nationale Strategie für erfolgreiche Inklusion“ (ebd., 5), um der Verpflichtung der UN-Konvention nachzukommen.

Nationale und internationale Studien zeigen auf, dass ein inklusives Schulsystem für alle Schüler_innen in Bezug auf die Leistungsentwicklung in positiver Weise wirksam wird (vgl. Blenck/Preisigke/Zink 2012, 167). So heben Löser und Werning hervor, dass „heterogene Lerngruppen […] insbesondere für Schülerinnen und Schüler aus Minderheitengruppen Vorteile in der Lern- und Leistungsentwicklung“ (Löser/Werning 2013, 30) bieten. Mit Blick auf die persönliche Entwicklung der Schüler_innen, ihre Akzeptanz und ihr Selbstkonzept in inklusiven Lernzusammenhängen, zeigen empirische Studien, dass diese Merkmale jedoch besonders vom Förderkonzept, dem jeweiligen Unterricht und dem subjektiven Unterstützungsbedarf abhängig sind (Merz-Atalik 2014, 37). So sind „die Erfahrung der Eingebundenheit in die Gruppe und die Selbsterfahrung als anerkanntes Mitglied in der Gemeinschaft“ (Lütje-Klose 2013, 36) in Bezug auf die soziale und emotionale Entwicklung entscheidend.

In England wurde aus diesem Grund der Index für Inklusion entwickelt, der vielfältige Dimensionen von Schule und Unterricht unter Einbeziehung aller Beteiligten wie Schüler_innen, Lehrkräfte, Eltern, Mitarbeiter_innen analysiert, um diese Bedingungen an eine inklusive Schule aus der Sicht aller stetig zu evaluieren und auf die Bedürfnisse aller hin weiterzuentwickeln (Booth/Ainscow 2011/Dritte Auflage, in der deutschen Fassung von Boban/Hinz 2003). Mittlerweile gibt es auch Fassungen für die Arbeit in der Kindertagesstätte (Booth/Ainscow/Kingston 2006) sowie auf kommunaler Ebene (Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft 2011).

Inklusion im Kontext von Gedenkstätten

In Museen und Gedenkstätten wird der Diskurs um den Anspruch von Inklusion aufgenommen, indem diese Institutionen darüber nachdenken, ob allen potenziellen Besucherinnen und Besuchern ein barrierefreier Zugang ermöglicht wird. Diese Überlegungen umfassen verschiedene Ebenen. So sind der physische Zugang zur Bildungseinrichtung und die Möglichkeiten, die hier vorgestellten Inhalte wahrzunehmen, in der Regel als erstes im Blick. Texte in leichter Sprache anzubieten, Inhalte in verschiedener Weise (auditiv, erfühlbar usw.) zu veranschaulichen, damit Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen diese erfahren können, werden von vielen Bildungsinstitutionen als nächste Umsetzungsschritte fokussiert. So bieten Gedenkstätten und Museen mittlerweile Ausstellungskataloge in leichter Sprache und Blindenschrift an oder stellen Audioguides im Rahmen der Ausstellung zur Verfügung. Den Anspruch der Inklusion im zuvor genannten Sinne konsequent weiterzuführen, bedeutet aber noch mehr. Denn um Barrieren in Kultur- und Bildungseinrichtungen abzubauen, müssen auch Fragen dazu gestellt werden, „welche Ausstellungen zum Beispiel gezeigt, welche Medien erworben oder welche Gegenstände gesammelt und gepflegt werden, letztlich, welche Vorstellungen von Kultur und Bildung als explizites und implizites Wissen vermittelt und auch welche Geschichten“ (Tervooren/Weber 2012, 25) zu den jeweiligen Differenzlinien wie u.a. Behinderung, Sprache, Geschlecht etc. erzählt werden.

Im Rahmen eines Projekts an der Leibniz-Universität Hannover wird in diesem Sinne das Ziel verfolgt, dass sich Studierende der Sonderpädagogik gemeinsam mit Menschen mit Behinderungen und ohne Hochschulzugangsberechtigung Fragestellungen im Kontext der NS-‚Euthanasie‘ aneignen. Die Teilnehmer_innen erarbeiten sich Kenntnisse über den Umgang mit behinderten Menschen in der NS-Zeit (Ausgrenzung, Zwangssterilisation, Ermordung), sammeln Erfahrungen mit gemeinsamen Arbeitsformen und sollen durch diesen Austausch eine eigene Haltung zu Ausgrenzung, Diskriminierung, ,Lebenswert‘ und den NS-,Euthanasie‘-Verbrechen entwickeln. Eine gemeinsame Exkursion in eine Gedenkstätte, die an die NS-,Euthanasie‘-Verbrechen erinnert, führt diese Inhalte in besonderer Weise zusammen. Denn hier sind insbesondere die Studierenden gefordert, sich in konkreten inklusiven Lernsituationen mit ihren Haltungen bezüglich inklusiven Lehrens und Lernens und den damit verbundenen gesellschaftlichen Implikationen auseinanderzusetzen: Was bedeutet für mich Inklusion? Inwiefern wirkt sich der Anspruch der Inklusion auf Inhalte und Formen der Auseinandersetzung in schulischen und außerschulischen Lernsituationen aus? In welcher Weise kann ich dazu beitragen, die gesellschaftliche Bedeutung von Inklusion umzusetzen? So führen die Auseinandersetzungen mit dieser Thematik auch dazu, dass die Teilnehmer_innen den Anspruch der Inklusion auf den zuvor skizzierten Ebenen an die Arbeit in der Gedenkstätte herantragen. Es werden Wege erdacht und erprobt, um allen einen Zugang zu den jeweiligen Inhalten zu ermöglichen (vgl. Schomaker/Lindmeier 2015, Lindmeier/Schomaker 2014).

Literatur

Allemann-Ghionda, C., Bildung für alle, Diversität und Inklusion: Internationale Perspektiven, Paderborn u.a. 2013.

Bertelsmann-Stiftung (Hg.), Update Inklusion – Datenreport zu den aktuellen Entwicklungen. Gütersloh.

Blenck, I./Preisigke, J./Zink, L., Empirische Studien zum gemeinsamen Unterricht. In: Saldern, M. von (Hg.), Inklusion. Deutschland zwischen Gewohnheit und Menschenrecht, Norderstedt 2012, 165-180.

Boban, I./Hinz, A., Index für Inklusion. Lernen und Teilhabe in der Schule der Vielfalt entwickeln, Halle 2003. Download

Booth, T./Ainscow, M./Kingston, D., Index für Inklusion (Tageseinrichtungen für Kinder). Lernen, Partizipation und Spiel in der inklusiven Kindertageseinrichtung entwickeln, Frankfurt/M. 2006.

Booth, T./Ainscow, M., Index for inclusion. Developing learning and participation in schools, Bristol 2011.

HRK/KMK, Lehrerbildung für eine Schule der Vielfalt. Gemeinsame Empfehlung von Hochschulrektorenkonferenz und Kultusministerkonferenz 2015. Download 

KMK, Inklusive Bildung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung in Schulen. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 20.10.2011.

Lindmeier, B./Lindmeier, C., Pädagogik bei Behinderung und Benachteiligung. Band I: Grundlagen, Stuttgart 2012.

Lindmeier, B./Schomaker, C., ,Gut, dass wir damals nicht gelebt hätten, sonst wären wir alle schon tot!‘ – Inklusive historische Bildung zum Thema der NS-,Euthanasie‘-Verbrechen. In: Sonderpädagogische Förderung heute, H. 1, 2014, 73-91.

Löser, J./Werning, R., Inklusion aus internationaler Perspektive – ein Forschungsüberblick. In: Zeitschrift für Grundschulforschung, H. 1, 2013, 21-33.

Lütje-Klose, B., Inklusion – Herausforderung für Schul- und Unterrichtsentwicklung. In: Pädagogik, H. 9, 2013, 34-36.

Merz-Atalik, K., Der Forschungsauftrag aus der UN-Behindertenrechtskonvention, nationale und internationale Probleme und ausgewählte Erkenntnisse der Integrations-/Inklusionsforschung zur inklusiven Bildung. In: Trumpa, S./Seifried, S./Franz, E./Klauß, T. (Hg.), Inklusive Bildung: Erkenntnisse und Konzepte aus Fachdidaktik und Son-derpädagogik, Weinheim/Basel 2014, 24-46.

Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft (Hg.), Inklusion vor Ort – Der kommunale Index für Inklusion – ein Praxishandbuch, Freiburg 2011.

Schomaker, C./Lindmeier, B., ,Auf Spurensuche‘. Erinnern an die NS-,Euthanasie‘-Verbrechen – die Umsetzung eines inklusiven Projekts. In: Grundschulunterricht Sachunterricht, H. 3, 2015, 22-26.

Sturm, T., Lehrbuch Heterogenität in der Schule, München/Basel 2013.

Tervooren, A./Weber, J., Einleitung: Barrieren wahrnehmen, verstehen und abbauen. In: dies. (Hg.): Wege zur Kultur. Barrieren und Barrierefreiheit in Kultur- und Bildungseinrichtungen, Köln u.a. 2012, 11-26.

Empfohlene Zitierweise

Claudia Schomaker: Stichwort: Inklusion (2015). In: Geschichte.Bewusst.Sein.de, URL: https://geschichte-bewusst-sein.de/stichwort-inklusion/ [Zugriffsdatum]