Wissensbestände und Vorstellungen von Kindern zu Nationalsozialismus und Holocaust

Der Beitrag gibt einen Überblick über den Stand der wissenschaftlichen Forschung zur Frage, inwieweit die Themen Nationalsozialismus und Holocaust mit Kindern aufgegriffen und somit Gegenstand des Unterrichts der Grundschule sein sollten. Neben der Betrachtung einzelner Forschungsarbeiten zu Wissensbeständen bei Grundschulkindern werden offene Fragen mit Blick auf die Pädagogik benannt.

von Detlef Pech

Forschung zu Wissensbeständen

Die Diskussion, inwieweit Holocaust/Nationalsozialismus bereits mit Kindern thematisiert werden sollte oder gar müsste, begann Mitte der 1990er Jahre mit einer von Gertrud Beck herausgegebenen Schwerpunktausgabe der „Grundschulzeitschrift“.

Im Folgenden gab es fünf größere Arbeiten, die im Kontext der Frage der Thematisierung von Holocaust/Nationalsozialismus in der Arbeit mit Kindern der Grundschule stehen. Die Studie von Heike Deckert-Peaceman, die bereits im Jahr 2002 veröffentlicht wurde, kann hierbei als Wegweiser betrachtet werden, da sie insbesondere mit Blick auf US-amerikanische Konzeptionen systematisch die Möglichkeiten bezüglich der deutschen Grundschule auslotet. Die 2008 und 2009 erschienenen Arbeiten von Vera Hanfland, Alexandra Flügel und Andrea Becher sind empirische Arbeiten, in denen Wissen und Deutungen von Kindern im Fokus der Betrachtung sind. Während Hanfland dies anbindet an die Frage des Geschichtsbewusstseins und noch stark an den möglichen Grenzen kognitiver Leistungen von Kindern ausgerichtet ist und so letztlich für eine Thematisierung frühestens in der vierten Jahrgangsstufe plädiert, kommen Flügel und Becher zu weiterreichenden Ergebnissen, was sich letztlich über die Anlage ihrer Arbeiten erklärt.

Andrea Becher interpretiert die in Interviews mit Kindern deutlich gewordenen Wissenskonstellationen. Sie entziffert hierbei Vorstellungskategorien von Kindern und weist unter anderem darauf hin, dass bereits bei neun-, zehnjährigen Kindern eine starke Ausrichtung auf die Person Hitlers nachzuweisen ist, als auch Kenntnisse über die Verfolgung und Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden vorhanden sind. Zudem betont sie, dass die von ihr interviewten Kinder den Nationalsozialismus als System totaler Herrschaft betrachten, das keinen Raum für individuelles Handeln ließ. Als besonders bedeutsam ist ein Befund ihrer Arbeit anzusehen, – die interviewten Kinder sehen Juden und Jüdinnen als Nicht-Deutsche an. Dies korrespondiert stark mit dem Desiderat, dass Aspekte jüdischer Kultur, jüdischer Geschichte und Gegenwart in Deutschland als bildungsrelevante Inhalte für die Grundschule bislang nicht erschlossen sind.

Während die Arbeiten von Hanfland und Becher als didaktische Forschungsvorhaben zu charakterisieren sind, ist die Arbeit von Flügel orientiert an den Ansätzen der ethnografisch ausgerichteten Kindheitsforschung. Alexandra Flügel macht deutlich, dass bereits Kinder in der Grundschule eingebunden sind in den gesellschaftlichen Erinnerungsdiskurs, d.h. es wird auf Argumentationsfiguren zurückgegriffen, die kennzeichnend sind für das gesellschaftliche Sprechen über den Nationalsozialismus. Sie stellt heraus, dass Kinder gar eine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus einfordern, da sie es als relevantes gesellschaftliches Thema entziffern, von dem sie nicht ferngehalten werden wollen.

Die fünfte, 2011 erschienene Arbeit von Isabel Enzenbach fokussiert die schulische Situation. Zum einen legt sie bezogen auf Berlin dar, dass trotz fehlender Verankerung in den Lehrplänen in einer Vielzahl von Grundschulen Nationalsozialismus im Unterricht thematisiert wird, zum anderen zeigt sie über mit Lehrerinnen und Lehrern durchgeführte Interviews, dass die fehlende Orientierung in Literatur und Lehrplänen dazu führt, dass Lehrkräfte individuelle Bedeutungsstrukturen nutzen.

Vorstellungen von Kindern

Alle bislang thematisierten Studien arbeiten mit Ansätzen der qualitativen Sozialforschung, womit sie grundlegende Strukturen sichtbar machen können, aber sich auf eine kleine Datenmenge beschränken müssen. Christina Klätte hat in den vergangenen Jahren erste Ergebnisse eines Forschungsvorhabens vorgelegt, das mit quantitativen Methoden eine größere Anzahl von Fragebögen zu Wissensbeständen von Kindern in der vierten Jahrgangsstufe auswertet. In ihren ersten Ergebnissen konnte sie die grundlegenden Annahmen der vorliegenden Studien bestätigen, d.h. umfassende Wissensbestände deutlich machen. Beachtenswert für die weitere Diskussion ist ihr Hinweis, dass aufgrund des familiären Gedächtnisses und der damit verbundenen Erzählungen die Wissensbestände über den Nationalsozialismus von Kindern aus Familien mit igrationsgeschichte weniger ausgeprägt sind als jene von Kindern aus Familien ohne Migrationsgeschichte.

Doch zum einen ist im Bereich des Interesses von Kindern an (zeit-)geschichtlichen Themen eben keine Differenz aufzuzeigen , zum anderen verzichten Lehrkräfte der Grundschulen in Klassen mit einem hohen Anteil von Kindern aus Familien mit Migrationsgeschichte eher auf eine Thematisierung . Sie spricht hier von einer doppelten Benachteiligung dieser Kinder, was Fragen historischer Bildungsprozesse anbelangt.

Offene Fragen

Es liegen empirische Erkenntnisse zu den Perspektiven von Kindern auf Holocaust/Nationalsozialismus vor. Hierbei handelt es sich um Ergebnisse kleinerer qualitativ angelegter empirischer Untersuchungen. Eine Verallgemeinerung dieser Ergebnisse, nicht zuletzt hinsichtlich der Heterogenität von Wissensbeständen und deren Gründen, ist notwendig. Zur unterrichtlichen Realität wie zu den Perspektiven von Lehrkräften liegt nur eine einzige kleine Untersuchung vor. Hier ist noch umfassender Forschungsbedarf zu konstatieren.

Hinsichtlich der Perspektiven von Kindern gilt es weitere Differenzierungen vorzunehmen. Die vorliegenden qualitativen Arbeiten konnten verdeutlichen, an welchen Punkten eine weitere Betrachtung lohnenswert ist. Hierzu zählen insbesondere die Fragen nach den Täter_innen sowie des Widerstandes. Besondere Aufmerksamkeit sollte zudem dem Verständnis von Judentum sowie von Juden und Jüdinnen als historischen Akteuren gewidmet werden. Wie sich eine solch eigenständige Thematisierung jüdischer Geschichte und Kultur thematisieren lässt, ist bislang ungeklärt.

Auch hinsichtlich der Thematisierung von Holocaust/
Nationalsozialismus können weiterhin grundlegende offene Fragen konstatiert werden. So ist die Frage, ob das systematische Morden selber Gegenstand des Unterrichts in der Grundschule sein sollte, weiterhin unbeantwortet. Die Positionen diesbezüglich lassen sich allenfalls als „intuitiver Konsens“ beschreiben – und zwar hinsichtlich der Aussparung dieses doch eigentlich zentralen Aspekts in der Grundschule. Eine systematische, reflektierte und gezielte Klärung steht indes aus.

Literatur

Dieser Beitrag folgt weitestgehend ausführlicheren Darstellungen, und zwar: „Vorstellungen von Kindern“ und „Wissenszugänge von Kindern“: Detlef Pech/Isabel Enzenbach, Zeitgeschichte thematisieren in der Grundschule. Zum Stand einer Diskussion und ihrer Leerstellen am Beispiel der Thematisierung von Holocaust, Nationalsozialismus und jüdischer Geschichte, in: MEDAON – Magazin für jüdisches Leben in Forschung und Bildung 11/2012 (13 Seiten) sowie „Ausblick“: Detlef Pech, Sachunterricht und frühes historisches Lernen über jüdische Geschichte, Nationalsozialismus und den Holocaust – Entwicklung einer Diskussion, in: Isabel Enzenbach/Detlef Pech/Christina Klätte (Hg.), Kinder und Zeitgeschichte: Jüdische Geschichte und Gegenwart, Nationalsozialismus und Antisemitismus (= 8. Beiheft von widerstreit-sachunterricht.de). Berlin 2012, S. 13–24.

Andrea Becher,
Die Zeit des Holocaust in Vorstellungen von Grundschulkindern. Eine empirische Untersuchung im Kontext von Holocaust Education,
Oldenburg 2009.

Alexandra Flügel,
„Kinder können das auch schon mal wissen und nicht nur, dass alles schön ist!“ Nationalsozialismus und Holocaust im Spiegel kindlicher Reflexions- und Kommunikationsprozesse,
Opladen 2009.

Christina Klätte,
Kenntnisse von Grundschulkindern zum Nationalsozialismus und Holocaust – eine empirische Untersuchung in der vierten Jahrgangsstufe, in: Hartmut Giest/Astrid Kaiser/Claudia Schomaker, Sachunterricht – auf dem Weg zur Inklusion,
Bad Heilbrunn 2011, S. 169–173.

Christina Klätte,
„Opa hat gegen das Böse gekämpft.“ – Kenntnisse von Grundschulkindern über Nationalsozialismus und Judenverfolgung, in: Frank Hellmich/Sabine Förster/Fabian Hoya (Hg.): Bedingungen des Lehrens und Lernens in der Grundschule. Bilanz und Perspektiven,
Wiesbaden 2012, S. 253–256.

Heike Deckert-Peacemann,
Holocaust als Thema für Grundschulkinder?
Frankfurt am Main 2002.

Isabel Enzenbach,
Klischees im frühen historischen Lernen. Jüdische Geschichte und Gegenwart, Nationalsozialismus und Judenfeindschaft im Grundschulunterricht,
Berlin 2011.

Vera Hanfland,
Holocaust – ein Thema für die Grundschule? Eine empirische Untersuchung zum Geschichtsbewusstsein von Viertklässlern,
Münster 2008.

Empfohlene Zitierweise

Detlef Pech: Wissensbestände und Vorstellungen von Kindern zu Nationalsozialismus und Holocaust (2015). In: Geschichte.Bewusst.Sein.de, URL: https://geschichte-bewusst-sein.de/wissensbestaende-und-vorstellungen-von-kindern-zu-nationalsozialismus-und-holocaust/ [Zugriffsdatum]