Einleitung und Handreichung
Seit über 600 Jahren leben Sinti und Roma in Deutschland. Die meiste Zeit waren sie als Minderheit ausgegrenzt und wurden häufig auch verfolgt. Im 20. Jahrhundert, insbesondere in der Zeit des Nationalsozialismus, waren sie Opfer rassistischer Verfolgung, die die Ausrottung des gesamten Volkes zum Ziel hatte. Aber auch in unserer heutigen Gesellschaft begegnen viele Menschen Sinti und Roma mit Vorurteilen und Feindschaft.
Die hier zusammengestellte Materialsammlung regt an, über die Verfolgung der Sinti und Roma in Niedersachsen in Schulen und anderen Einrichtungen zu lehren und zu lernen. Elf Themenmodule bieten einen biografischen und regionalgeschichtlichen Zugang. Zusätzlich stehen Vorschläge für die Bearbeitung von fünf zentralen historischen Dokumenten bereit.
Alle Dateien sind im pdf-Format zum kostenlosen Download bereitgestellt und können als Kopiervorlagen vervielfältigt werden.
Einleitung und Handreichung zum Unterrichtseinsatz der Bildungsmaterialien zur Verfolgungsgeschichte der Sinti und Roma
Modul 1 | Zigeuner – Sinti – Roma: drei Begriffe – ein Volk?
Das Modul betrachtet und erklärt die unterschiedlichen Begriffe „Sinti – Roma –‚Zigeuner‘“ und beleuchtet ihre jeweilige Herkunft und Verwendung.
Modul 1 | Zigeuner – Sinti – Roma: drei Begriffe – ein Volk?
Modul 2 | 600 Jahre Sinti und Roma in Niedersachsen
Die Geschichte der Sinti und Roma im deutschsprachigen Raum ist eine Geschichte von Ausgrenzung und Verfolgung. Kurze Zeit nach dem ersten nachgewiesenen Auftauchen der Minderheit im frühen 15. Jahrhundert im norddeutschen Raum wurde mit dem Freiburger Reichstagsbeschluss im Jahre 1498 das in der Folgezeit stets praktizierte ausgrenzende Verhalten deutlich.
Sowohl der Text(ausschnitt) des Reichstagsbeschlusses (womöglich in einer Transkription) als auch das Bild vom Taternpfahl können als Quelle verwendet werden, um die beginnende Ausgrenzung, die mit drakonischen Strafen belegt ist, zu erkennen.
Als Hintergrundinformation ist es hilfreich zu wissen, wie sich die Lebenssituation für Sinti und Roma darstellte. Die beginnende Verfolgung brachte sowohl einen Ausschluss von handwerklichen Berufen in Städten, für die man Mitglied einer Zunft hätte sein müssen, wie auch eine Notwendigkeit zum Umherreisen mit sich. Das Umherreisen hatte seine Ursache somit einerseits in der Notwendigkeit, als Händler oder Kleinhandwerker die Kunden aufzusuchen, und natürlich in der Unsicherheit, immer wieder aus dem jeweiligen Herrschaftsgebiet, vertrieben zu werden.
Wichtig ist also die Erkenntnis, dass die Sinti und Roma nicht von sich aus – und schon gar nicht aus „romantischen“ Gründen – umherreisten, sondern dass sie dazu gezwungen waren, wenn sie ihr Überleben durch Einkommen und gegebenenfalls rechtzeitige Flucht aus unsicheren Situationen sichern wollten.
Modul 3 | Zwangssterilisation
Mit der Zwangssterilisation begann der Völkermord an Sinti und Roma 1933 auf einer anfangs formalrechtlichen Grundlage. Das am 14. Juli 1933 von der nationalsozialistischen Regierung verabschiedete und am 25. Juli im Reichsgesetzblatt veröffentlichte „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ war zwar schon in den letzten Jahren der Weimarer Republik entstanden, die Nationalsozialisten hatten es jedoch um den Aspekt der Zwangssterilisation verschärft. Die im Gesetz genannten Indikationen von vererbbaren Krankheiten umfassten u.a. im ersten Punkt „erblichen Schwachsinn“, was den Eugenikern ein weites Tor für Sterilisationsanträge öffnete. „Schwachsinn“ wurde bei unterschiedlichen Formen gesellschaftlich nicht angepassten Verhaltens unterstellt und zumeist mit Hilfe eines „Intelligenzprüfbogens“ diagnostiziert.
Mit dem sog. „Auschwitzerlass“ des Reichsführers SS Heinrich Himmler vom 16. Dezember 1942 verschärfte sich für Sinti und Roma die Lage nicht nur wegen der bevorstehenden Deportation in das Vernichtungslager. Punkt III auf Seite 4 des Schnellbriefs vom 29. Januar 1943 zeigt, dass Ausnahmen von der Deportation nach Auschwitz vorgenommen wurden, gleichzeitig jedoch für die ausgenommenen, noch nicht sterilisierten Personen die Sterilisation „anzustreben“ sei. Auf dieser Grundlage wurde u.a. die Sterilisation von Werner Fahrenholz und seinem Bruder durchgeführt.
Modul 4 | Auschwitzdeportation 1943
Nach dem sog. „Auschwitzerlass“ Himmlers Ende 1942 wurden ab Februar 1943 mehr als 23.000 Sinti und Roma aus dem Deutschen Reich und den besetzten Gebieten in das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau deportiert.
Dies wird in diesem Modul anhand der Erinnerungen der Hildesheimer Sintizza Lily van Angeren Franz dargestellt. Lily van Angeren-Franz schildert ihren Weg und den ihrer Schwester Waltraud von der Verhaftung über den Transport nach Auschwitz bis zur Ankunft im Lager.
Eine Landkarte zeigt die Schwerpunkte der Deportation in Norddeutschland. Da die Aktionen der Polizei aber nicht nur an diesen Schwerpunkten sondern flächendeckend stattfanden, verweist die Aufgabenstellung auf eine lokale Erforschung der Verfolgungssituation der Sinti und Roma.
Modul 5 | Zigeunerfamilienlager Auschwitz-Birkenau
Nach dem sog. „Auschwitzerlass“ wurde dort ein „Zigeunerfamilienlager“ eingerichtet. Bis zu dessen Auflösung im August 1944 wurden mehr als 20.000 Sinti und Roma in Auschwitz umgebracht.
Im Modul werden anhand von Erinnerungsberichten die Ankunft und das Leben im Lager geschildert.
Die Bearbeitung des Moduls kann von einer allgemeinen Information über das Konzentrationslager Auschwitz begleitet werden. Die Quellen dazu sind vielfältig und im Internet oder regionalen Medienzentren abrufbar. Lohnenswert ist ein Exkurs zum Thema Täter, da durch die mediale Aufmerksamkeit, die u.a. der Prozess gegen Oskar Gröning 2015 in Lüneburg mit sich brachte, die Frage nach den Verbrechen und ihre Ahndung auch seit mehr als siebzig Jahren öffentlich diskutiert wird.
Modul 6 | Täter
Eine juristische Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verfolgung von Sinti und Roma fand nur in geringem Maße statt. Ermittlungsverfahren und Prozesse gegen Lagerpersonal und Mitarbeiter von Schutz- und Kriminalpolizei führten selten zu Verurteilungen.
Im Modul finden sich Informationen zu einem Prozess, der Mitte der 1980er Jahre gegen einen Blockführer des „Zigeunerlagers“ geführt wurde.
Ausgangspunkt des Moduls ist die Gerichtsverhandlung gegen den ehemaligen Block- und Rottenführer Ernst-August König, der im „Zigeunerfamilienlager“ Auschwitz Birkenau eingesetzt war. Neben König, der als ehemaliger SS-Mann juristisch zur Verantwortung gezogen wurde, stellt das Modul drei Kriminalpolizisten aus Hannover vor, die in ihren Positionen an der Deportation und Zwangssterilisation von Sinti und Roma beteiligt waren, aber nicht juristisch belangt wurden.
Den Abschluss des Moduls bildet ein Exkurs zur Frage, wie Männer aus den Polizeikorps zu Tätern wurden.
Die öffentliche Wahrnehmung und Diskussion um den Lüneburger Prozess gegen der SS-Mann Oskar Gröning kann einen direkten Anknüpfungspunkt für eine intensive Recherche zur juristischen Aufarbeitung von NS-Verbrechen geben.
Modul 7 | Hilfe und Protest
Unterstützung durch Hilfs- oder Protestaktionen gegen die Verfolgung von Sinti und Roma gab es nur sehr selten. Kirchen und staatliche Bedienstete wie auch Privatpersonen nutzten womöglich bestehende Handlungsspielräume nur wenig. Das Modul zeigt dennoch Beispiele von vereinzelten Versuchen, Sinti und Roma auf unterschiedliche Weise in der Verfolgungssituation zu helfen.
Für Lernende kann dieses Modul ein Impuls sein, solange noch kein eigenes Modul „Widerstand“ (in Arbeit) angeboten werden kann, sich mit der Bedeutung wie den Gefahren widerständigen Verhaltens auseinanderzusetzen.
Modul 8 | … von der Polizei einfach weggeholt
Das Modul beschäftigt sich mit der Geschichte eines Sinti-Pflegemädchens aus Hildesheim, das aus seiner Pflegefamilie geholt, nach Auschwitz deportiert wird und dort nach kurzer Zeit stirbt.
Im Mittelpunkt steht das Schicksal des Sintimädchens Hulda Franz, das nach der Geburt von einer Hildesheimer Pflegefamilie aufgenommen und vollkommen integriert wird. Im Rahmen der reichsweiten Erfassung von Sinti und Roma wird Hulda als Sintizza „entdeckt“, erkennungsdienstlich behandelt und gegen den Widerstand ihrer Pflegemutter nach Auschwitz deportiert, wo sie kurze Zeit später stirbt. Ihre Schwester, das leibliche Kind ihrer Pflegeeltern, berichtet von den damaligen Ereignissen.
Eine Parallele zum Schicksal von Hulda Franz findet sich in der Geschichte von Sidonie Adlersberg, die der österreichische Schriftsteller Erich Hackl unter dem Titel „Abschied von Sidonie“ veröffentlichte. Neben einem Spielfilm der Regisseurin Karin Brandauer („Sidonie“) gibt es verschiedene unterrichtsbegleitende Materialien.
Modul 9 | Aktion „Arbeitsscheu Reich“ 1938
Die Aktion „Arbeitsscheu Reich“ war die erste große Verhaftungsaktionen im April und Juni 1938, in deren Zuge eine größere Anzahl Sinti in Konzentrationslager eingeliefert wurden. In diesem Modul geht es um die Verfolgungsgeschichte der Familie Franz aus Hildesheim. Tochter Lily Franz beschreibt aus der Erinnerung die Verhaftung des Vaters Julius Franz, und Julius Franz selbst berichtet 1954 vor der Entschädigungskammer des Landgerichts Hildesheim, bei dem er seine Entschädigungsansprüche geltend machen musste, von seiner Lagerhaft. Die Aktion „Arbeitsscheu Reich“ manifestierte den Begriff „asozial“ als angebliches Charakteristikum von Sinti und Roma.
Modulübergreifend kann an dieser Stelle eine Verknüpfung mit dem Modul „Deportation nach Auschwitz 1943“ vorgenommen werden, da die restliche Familie Franz davon betroffen war.
Modul 10 | Johann „Rukeli“ Trollmann
Johann „Rukeli“ Trollmanns Geschichte ist die Geschichte eines Boxers aus Hannover, der vom nationalsozialistisch orientierten Boxverband 1933 nicht als deutscher Meister anerkannt, später verfolgt und verhaftet und letztlich in einem Konzentrationslager getötet wird. Die Geschichte des Boxers Trollmann ist in den vergangenen zehn Jahren intensiv medial verarbeitet worden. Entstanden sind diverse Zeitungsberichte, Publikationen (auch im Genre der graphic novel), Theaterstücke sowie Dokumentar- und Spielfilme. Die vielfältigen Möglichkeiten zur Thematisierung einer Lebensgeschichte legen eine Beschäftigung mit diesem Modul nahe. Entlang der Erinnerung an Johann Trollmann, die seit Mitte der 1990er Jahre nachvollziehbar ist, lässt sich in der stetig zunehmenden medialen Präsenz seiner Geschichte eine neue Dynamik der deutschen Erinnerungskultur hinsichtlich der Wahrnehmung der Verfolgungsgeschichte von Sinti und Roma erkennen. Damit kann dieses Modul auch den Ausgangspunkt einer Auseinandersetzung mit der Verfolgungsgeschichte der Sinti und Roma im Nationalsozialismus darstellen.
Modul 11 | Die „Rassenhygienische Forschungsstelle“
Die Nationalsozialisten stellten die Verfolgung und Vernichtung von Sinti und Roma auf eine pseudowissenschaftliche Grundlage, die vom Personal um den Mediziner Robert Ritter erarbeitet wurde. Die damit einhergehende Erfassung vieler Menschen half den Behörden bei der Deportation der Sinti und Roma in Vernichtungslager. Ritters Arbeitsergebnisse waren willkommene Unterstützung für den Völkermord.
Das Modul regt zu einer Auseinandersetzung mit der Verantwortung von Wissenschaft und Forschung an. Während sich Protagonisten der Rassenforschung nach dem Krieg lediglich als Wissenschaftler sahen, waren ihre sogenannten Forschungsergebnisse mit ursächlich für die Tötung und Sterilisation hunderttausender Sinti und Roma in ganz Europa. Mit der Frage nach der Verantwortung zielt der letzte Bearbeitungsvorschlag auf eine Auseinandersetzung mit dem Umgang der Bundesrepublik Deutschland mit Tätern und Opfern.
Ein weiteres Modul zu der sogenannten Wiedergutmachung an den Opfern ist in Bearbeitung.
Ein weiteres Thema kann der Umgang mit den Fotos sein. Die im Modul gezeigten Fotoreihen einer Sintizza und ihres Sohnes sehen – wie alle Erfassungsfotos der „Rassenhygienischen Forschungsstelle“ – wie Fotos für eine polizeiliche erkennungsdienstliche Behandlung aus: aufgenommen direkt von vorn, von der Seite und schräg von vorn. Die Fotos, die Ritter bei der Ausübung seiner Tätigkeit zeigen, können auf Perspektiven, Darstellung der Personen und Konstellation der Personen befragt werden (beispielsweise: Wer ist zu sehen? Was ist seine/ihre Aufgabe? Welche Aussage/welchen Eindruck will das Foto transportieren? Warum entstanden die Aufnahmen im Freien?).
Bearbeitungsvorschläge
Runderlass „Bekämpfung der Zigeunerplage“ vom 8. Dezember 1938
Schnellbrief „Vorbeugende Verbrechensbekämpfung“ vom 1. Juni 1938
Der „Festsetzungserlass“ vom 17. Oktober 1939
Autoren und Kontakt
Das Angebot wurde erstellt von
- Reinhold Baaske, Lehrer an der KGS Hemmingen
- Boris Erchenbrecher, Historiker und Politologe, Hannover
- Hans-Dieter Schmid, emeritierter Hochschullehrer für Didaktik der Geschichte an der Leibniz Universität Hannover und
- Christian Wolpers, Bildungsreferent der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten / Gedenkstätte Bergen-Belsen (Kontakt: christian.wolpers@stiftung-ng.de)
Für Recherche und Mitarbeit danken die Autoren Arne Droldner und Maren Göpfert (beide Hannover) sowie Christoph Ermisch und Cornelia Matthias (ermisch | Büro für Gestaltung).