Biografien von Opfern der Deportationen aus Nordwestdeutschland zwischen 1941 und 1945

Die Deportationen in die Vernichtungslager bildeten im nationalsozialistischen Deutschland für verschiedene Bevölkerungsgruppen den Abschluss einer radikalisierten Diskriminierung und Entrechtung. Das Ziel war eine nach rassistischen Kriterien „reine Volksgemeinschaft“. Nur wenige der Verschleppten überlebten den Massenmord.

Die Biografien der Opfer aus Nordwestdeutschland zeigen den Prozess der stufenweisen Ausgrenzung aus der Gesellschaft. Die prägnant gehaltenen Texte beantworten dabei nicht alle Fragen. Sie können aber als Ausgangspunkt für weitere Recherchen vor Ort dienen.

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Transport Zetel – Bremen – Auschwitz 8. März 1943

Margot Anita Schwarz, geb. Franz

aus Zetel

1924 - 2002

Verfolgt als Sintizza

Frau
Margot Schwarz 1992 (Sammlung Günter Heuzeroth)

Margot Anita Schwarz, geb. Franz wurde am 10. September 1924 in Berlin als Tochter von Grete Franz und Rudolf Schafrenzki geboren und starb 2002 in Oldenburg. Aus der ersten Beziehung der Mutter stammen außerdem die Brüder Erwin (1925 – 1990) und Anton Franz (1927 – 1992). Im Jahr 1928 heiratete Grete Franz den Artisten Georg Frank (1906 – 1943). Während Erwin bei einem Onkel bei Danzig lebte, wuchsen Margot und Anton zusammen mit ihren sechs jüngeren Halbgeschwistern auf. Die Schaustellerfamilie Frank verlegte 1935 ihren Mittelpunkt aus dem Westpreußischen nach Leer in Ostfriesland, von wo sie auf Tournee ging. 1938 zog sie in die boomende Marinestadt Wilhelmshaven, deren Bevölkerungszahl wegen der Aufrüstung der Nationalsozialisten rasant zunahm.

Nur wenige Sinti und Roma haben den Völkermord im Nationalsozialismus überlebt. Es liegen auch nur wenige Selbstzeugnisse der Überlebenden vor. Margot Anita Schwarz hat sich im Jahr 1992 in einem Interview ausführlich zu ihrer Lebensgeschichte geäußert. Sie kommt daher hier selbst zu Wort:

„Meine Eltern waren Schausteller. Als ich 14 Jahre alt war, haben wir in Wilhelmshaven im Wohnwagen gewohnt. – Kriegsbeginn! Weil wir um unser Leben gefürchtet haben, sind wir 1939 nach Zetel-Bohlenberge gefahren mit unseren zwei Wohnwagen und haben gedacht, naja, das ist ein kleines Dorf, da sind wir sicherer. Und wir wurden auch ganz gut von den Leuten aufgenommen. Mein Vater arbeitete in einer Kiesgrube, mein Bruder ging arbeiten beim Bauern und ich in die Schuhfabrik in Varel.

Und dann wurde mein Vater zum Militär eingezogen. Und er war schon in Frankreich und auf einmal – ja, da kam die Polizei zu uns: ‚Alles einpacken und mitkommen‘. Und meine Mutter hat gesagt: ‚Ja, das geht ja gar nicht, mein Mann, der ist Soldat. Wir können doch hier nicht einfach weg.‘ ‚Ja, ihr Mann kommt auch.‘, hieß es. Sie haben uns erzählt: ‚Ihr werdet angesiedelt im Osten.‘ Wir mussten unsere Sachen zusammenpacken, weil sie ja mit Gewehr vor uns standen.

Dann sind wir nach Bremen ins Sammellager gekommen, da waren viele, ganz viele Leute schon da, auch mein Vater. Die Uniform hatten sie ihm ausgezogen, er hatte noch so ein Drillichzeug an. Meine Großeltern waren dabei, meine Tante und Onkel, mehrere Verwandte und Bekannte. Da waren wir nur zwei Nächte, dann sind wir auf Transport gekommen nach Auschwitz, zusammengepfercht in den Waggons. Nichts zu trinken, nichts zu essen. Die Eltern durften nichts mitnehmen. Für meine kleine Schwester hat meine Mutter noch ein Kissen genommen. Und da hat der Polizist meiner Mutter das Kissen aus der Hand gerissen und gesagt: ‚Ihr braucht keine Kissen mehr, wo ihr hinkommt.‘

Ich war jung, war damals 18 Jahre alt und habe mir keine Vorstellung gemacht von Auschwitz. Wir Kinder haben auch gesungen und gelacht unterwegs, wir wussten ja nicht, was auf uns zukommt. Wir haben gedacht, uns geht es gut, wenn wir dahin kommen. Weil es uns ja immer schlecht gegangen ist und, naja, es wird jetzt besser. Unsere Eltern, die hatten die Angst, sie ahnten, was bevorstand. Als wir dann in Auschwitz [Stammlager] ankamen, haben wir das große Tor gesehen mit der Schrift ‚Arbeit macht frei‘. Naja, haben wir gedacht, arbeiten ist ja nicht schlimm, wir können ja arbeiten. Wir waren jung und kräftig.

Dann sind wir nach Birkenau gekommen, da war das Zigeunerlager, das war ein Lager vorm Krematorium. Dann haben wir verstanden, was los war und wie es uns ergehen wird. Wir kamen in einen Block rein, das waren Pferdeställe früher. In der Mitte war ein ganz langer Ofen. Der konnte von vorne und hinten geheizt werden. Da waren überall Boxen, so nannten sie das, Bettgestelle, dreistöckig, und da lagen wunderbare, schöne rote Decken mit ganz langen Haaren. Und wir waren ja todmüde von den drei Tagen Fahrt. Wir haben an Essen gar nicht mehr gedacht, wir waren nur noch müde. Wach sind wir geworden von … es hat uns am ganzen Körper gejuckt. Unsere Mutter konnte die Läuse von uns nur so abschippen.

Wenige Tage später hieß es auf einmal, wer beim Militär war, kommt in einen gesonderten Block. Die kommen vielleicht wieder nach Hause. Und weil mein Vater ja Soldat war, sind wir in einen anderen Block gekommen, mit anderen Familien zusammen. In dem Militär-Block hieß es ständig ‚Appell‘, morgens und abends Zählappell, in Fünferreihen aufstellen. Bald starb meine kleine Schwester, sie war keine fünf Jahre alt.

Meine Mutter wurde krank, sie hatte geschwollene Beine, und da fragte ich den Blockältesten, ob meine Mutter drinnen gezählt werden könnte, weil sie so krank war. Das gab es eigentlich nicht, es gab ja nur lebendig oder tot. Aber der Blockälteste hat eine Ausnahme gemacht. Naja, und dann kamen die SS-Leute und haben gezählt. Sie sind dann reingegangen und ich hörte sie schreien. Und dann bin ich zwischen den Reihen raus, bin rein in die Baracke. Da hatten sie meine Mutter gerade an den Haaren und der eine hat ihr mit dem Gewehrkolben über den Kopf geschlagen und hat meine Mutter totgeschlagen. Und ich bin ihm ins Gesicht gesprungen und da hat er mir mit dem Gewehrkolben über den Kopf gehauen, da war ich besinnungslos. Die Narbe habe ich heute noch. Wie ich wach wurde, war meine Mama schon weg. Nun war ich mit meinem Vater und den Geschwistern alleine.

Dann kam mein Vater in den Krankenbau. Und man durfte ja die Kranken dort nicht besuchen, ich habe mich aber doch reingeschlichen, er war tot. Er hatte den Mund auf und ich dachte, was hat er da für Schwarzes im Mund? Und ich bin nah rangegangen, da kamen viele kleine Fliegen heraus. Jetzt war ich mit meinen Geschwistern alleine. Und einer nach dem anderen ist weggestorben vor Hunger. Und schließlich waren wir nur noch drei, und dann gingen die Transporte [zur Zwangsarbeit in Konzentrationslagern] los. Mich haben sie in einen Transport hineingeschmissen, die anderen beiden Geschwister mussten dableiben. Sie sind dann vergast worden.

Ich bin zunächst [Ende Juli 1944] nach Ravensbrück gekommen, das war ein Durchgangslager, da mussten wir erst mal vier Wochen in Quarantäne. Und von dort bin ich nach Flossenbürg gekommen im Sudetenland, in eine Munitionsfabrik. Zuletzt war ich im Frauen-Außenlager Graslitz [Kraslice] im Sudetengau, da haben wir Maschinengewehrteile gefertigt. Und weil wir in der Nachtschicht noch einmal Mittag gekriegt haben, habe ich denn Tag- und Nachtschicht gemacht. Als der Krieg schon fast zu Ende war, als es brenzlig wurde, haben sie uns alle aus dem Arbeitslager rausgenommen und wollten uns nach Flossenbürg bringen zur Vernichtung. Aber das haben sie nicht mehr geschafft, weil der Amerikaner sie überrascht hat.

Und dann sind wir befreit worden [24. April 1945]. Nein, ich nicht, ich bin [auf dem Todesmarsch] weggelaufen, habe mich unter den Flüchtlingsstrom gemischt und bin mitgelaufen. Ich habe keine Eltern mehr, habe ich gesagt. Da war immer Angst, dass wir wieder geschnappt und erschossen werden. Und dann [nach der Befreiung] bin ich zu Fuß gelaufen, also nicht in eins durch, aber in Stücken – bis nach Oldenburg. Zeitweise haben wir mal einen Zug geschnappt, aber ansonsten immer zu Fuß. Dann kam ich in Oldenburg, Ziegelhofgelände, an, habe zunächst aber niemanden gefunden. Und auf einmal habe ich gehört, dass die Geschwister Schwarz hier wohnen. Der Friedrich Schwarz wurde später mein Mann.“

Das Paar heiratete 1946. Friedrich Schwarz (1919 – 1990) hatte das KZ Sachsenhausen überlebt. Margot Schwarz fühlte sich lange als einzige Überlebende ihrer Familie. Erst Jahrzehnte später erfuhr sie, dass ihre Brüder Erwin und Anton ebenfalls überlebt hatten. Nach der Geburt des ersten von acht Kindern gingen das Ehepaar nach Zetel-Bockhorn in den Landkreis Friesland zurück, da sie hier, gewissermaßen als Ausgleich für die Deportation von 1943, eine kleine Wohnung erhofften und tatsächlich auch bekamen. In den 1950er Jahren investierte das Ehepaar die Entschädigungszahlungen in einen Wohnwagen und eine Zugmaschine und lebten mit ihren Kindern überwiegend in den Landkreisen Friesland, Wittmund und Aurich sowie in Wilhelmshaven. Friedrich Schwarz handelte im ländlichen Raum mit Kurzwaren, außerdem arbeiteten die Familienmitglieder regelmäßig als Erntehelfer bei Wittmund.

Mitte der 1970er Jahren verschlechterte sich der Gesundheitszustand der Eltern. Sie bekamen von der Stadt Oldenburg eine unzumutbare Barackenwohnung am Schlagbaumweg in Oldenburg zugewiesen und erst viel später menschenwürdigen Wohnraum. Margot Schwarz litt schwer an den Traumata der erfahrenen Gewalt und registrierte die anhaltende Diskriminierung der Sinti im Alltag der Bundesrepublik. Sie versuchte dem aktiv zu begegnen, stand als Zeitzeugin zur Verfügung und gehörte bis zu ihrem Tod im Jahre 2002 zu den prägenden Frauen der Oldenburger Sinti-Gemeinschaft.

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Ca. im Jahr 1960 ließen sich Friedrich und Margot Schwarz in KZ-Kleidung fotografieren, um auf die NS-Verfolgung der Sinti aufmerksam zu machen (Sammlung Christel Schwarz)

 

Weiterführende Informationen:

Web:
Homepage des GröschlerHaus – Zentrum für Jüdische Geschichte und Zeitgeschichte der Region Friesland / Wilhelmshaven: Zetel: Die in Auschwitz ermordete Sinti-Familie Frank

Literatur:
Hans Hesse, Jens Schreiber: Vom Schlachthof nach Auschwitz: Die NS-Verfolgung der Sinti und Roma aus Bremen, Bremerhaven und Nordwestdeutschland, Marburg 1999 (insbes. S. 266ff., S. 286ff.).

 

Autor: Hartmut Peters, Jever
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