Biografien von Opfern der Deportationen aus Nordwestdeutschland zwischen 1941 und 1945

Die Deportationen in die Vernichtungslager bildeten im nationalsozialistischen Deutschland für verschiedene Bevölkerungsgruppen den Abschluss einer radikalisierten Diskriminierung und Entrechtung. Das Ziel war eine nach rassistischen Kriterien „reine Volksgemeinschaft“. Nur wenige der Verschleppten überlebten den Massenmord.

Die Biografien der Opfer aus Nordwestdeutschland zeigen den Prozess der stufenweisen Ausgrenzung aus der Gesellschaft. Die prägnant gehaltenen Texte beantworten dabei nicht alle Fragen. Sie können aber als Ausgangspunkt für weitere Recherchen vor Ort dienen.

Mehr zum Thema erfahren Sie auch hier.

 

Transport Lüneburg – Hamburg – Auschwitz 9. März 1943

Wolfgang Helmut Mirosch (auch Mirusch)

aus Adendorf (Landkreis Lüneburg)

1935 - 1943

Verfolgt als Sinto

Jungen
Wolfgang Mirosch (rechts) mit seinem Cousin, ca. 1942 (Privatbesitz)

Wolfgang Helmut Mirosch (auch Mirusch) wurde am 23. November 1935 in der Landesfrauenklinik in Celle geboren. Vier Tage später wurde er in der Celler Stadtkirche auf den Namen Wolfgang Helmut Czaja evangelisch-lutherisch getauft. Wolfgangs leiblicher Vater ist unbekannt. Auch von seiner Mutter wissen wir nur wenig: Katharina Czaja wurde am 10. Juni 1914 in Rehden, Kreis Diepholz, geboren. Die Geburtsurkunde und die Taufbescheinigung bezeichnen seine Mutter als „Unverehelichte“ und als „Hausmädchen“. Ihr Arbeitgeber war der Klempnermeister August Garbers in Bleckede im Kreis Lüneburg.

Wolfgangs Geburtsurkunde wurde im April 1941 ergänzt: „Auf Anordnung des Amtsgerichts in Lüneburg wird berichtigend vermerkt, daß der Familienname nicht Czaja, sondern Mirusch und der Vorname der Mutter nicht Katharina, sondern Therese lautet.“ Mit demselben Wortlaut wurde Wolfgangs Tauf-Eintrag im Celler Kirchenbuch ergänzt. Was hinter diesem Vorgang steckte, ob es sich um einen Irrtum oder etwas anderes handelte, ist nicht bekannt.

Auf jeden Fall hieß Wolfgang von nun an „Mirosch“ bzw. „Mirusch“ mit Nachnamen. Das galt auch für seine drei Geschwister, von denen Wolfgang vermutlich nichts wusste, weil sie bei anderen Pflegeeltern lebten.

Offenbar im Dezember 1935 zog Wolfgangs Mutter mit ihm in das Kinderheim Wilschenbruch bei Lüneburg im Reiherstieg 13, das auch als „Mütterheim Waldesruh“ bezeichnet wurde. Als Wolfgangs Mutter wohl schon im Januar 1936 wieder aus dieser Einrichtung auszog, blieb Wolfgang dort zurück. Er kam im Juni 1936 in eine Pflegefamilie nach Adendorf (Landkreis Lüneburg). Dort lebte er fortan bei seinen Pflegeeltern Elisabeth und Heinrich Heine in der Fliederstraße 24.

Am 6. August 1942 wurde „Wolfgang Helmut Mirusch, genannt Heine“ – so lautet der Klassenbucheintrag – in die 1. Klasse der Adendorfer Schule eingeschult. Diese Schule durfte er aber nur wenige Monate besuchen. Am 9. März 1943 wurde Wolfgang Mirosch aus Adendorf weggebracht: Unter der Spalte „Entlassung oder Ausschulung“ notierte der Klassenlehrer Hermann Hildebrand im Klassenbuch bei Wolfgang lapidar: „Am 9.3.43 aus I nach Ungarn entl.“

Auch die Gemeinde meldete Wolfgang als Einwohner von Adendorf offiziell ab: „Ab Adendorf: am 9. März 1943 mit Zigeunertransport ab.“, lautet der Eintrag auf Wolfgangs Melderegisterkarte. Die Eintragung erfolgte auf Veranlassung des Landrates des Kreises Lüneburg, Wilhelm Albrecht. Er schrieb am 4. Mai 1943 Adendorfer Bürgermeister Karl Hermann: „Der Zigeuner Wolfgang Helmuth Czaja, richtig Mirosch, geb. 23.11.35 in Celle, ist auf unbestimmte Zeit in ein polizeiliches Arbeitslager eingewiesen worden. Das Melderegister ist entsprechend zu berichtigen.“

Zu diesem Zeitpunkt war Wolfgang schon im sogenannten „Zigeunerlager“ von Auschwitz-Birkenau, in das er am 11. März 1943 zusammen mit vielen anderen norddeutschen Sinti vom Hannoverschen Bahnhof in Hamburg aus gebracht worden war. Dort starb Wolfgang kurz vor seinem achten Geburtstag am 9. November 1943. Als Todesursache nannte der Lagerarzt Josef Mengele: „Kachexie bei Stomatitis catarrhalis“, also starke Unterernährung mit Entzündung der Mundschleimhaut. Auch die drei Geschwister von Wolfgang wurden nach Auschwitz deportiert und sind dort umgekommen. Wolfgangs Mutter war bereits im September 1942 in das KZ Ravensbrück deportiert worden. Sie starb dort am 17. Mai 1944.

Wolfgang Mirosch wurde bei den Adendorfern nach 1945 schnell vergessen. Erst gut 60 Jahre später stieß die damalige Leiterin der Adendorfer Bücherei und des Gemeindearchivs, Annegret Stankowski, auf die historische Meldekarte des Adendorfer Sinto. Sie recherchierte Wolfgangs Leben und veröffentlichte ihre Forschungsergebnisse 2007 in der „Chronik für Adendorf und Erbstorf“ unter dem Titel: „Das Schicksal eines Kindes – Adendorf 1943“.

Wolfgangs Geschichte wurde dadurch ab 2010 auch Thema an der Schule am Katzenberg – Oberschule in Adendorf. Schülerinnen und Schüler von Wahlpflichtkursen wollten mehr über Wolfgangs Leben wissen. Dazu suchten sie mit ihrer Lehrerin Ruthild Raykowski Zeitzeugen auf, die darüber Auskunft geben konnten. Entsprechende Gespräche in enger Zusammenarbeit mit Frau Stankowski brachten weitere Erkenntnisse. Insbesondere stellte eine Enkelin von Wolfgangs Pflegeeltern einige historische Fotos zur Verfügung, auf denen Wolfgang zu sehen ist.

In Adendorf stieß die Arbeit der Schülerinnen und Schüler auf großes Interesse. Vor allem der Gemeinderat, dem die Oberschüler ihre Forschungsergebnisse in einer öffentlichen Sitzung präsentierten, zeigte sich tief bewegt. Er sicherte den Schülern seine umfassende (auch finanzielle) Unterstützung für ihr Vorhaben zu, Wolfgang Mirosch im öffentlichen Raum zu würdigen. So erinnern heute eine Gedenktafel und ein Stolperstein vor Wolfgangs ehemaliger Schule an den Sinto-Jungen, der dadurch wieder in das öffentliche Bewusstsein gerückt wird.

Wolfgang Mirosch (rechts) mit seinem Cousin, ca. 1941 (Privatbesitz)

Wolfgang Mirosch (rechts) mit seinem Cousin, ca. 1941 (Privatbesitz)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Literatur:
Annegret Stankowski: Das Schicksal eines Kindes. Adendorf 1943, in: Adendorf – Heimatgeschichte(n) zwischen Elba und Ebensberg. Hrsg.: Gemeinde Adendorf, 2. überarbeitete Auflage, Adendorf 2010, S. 93ff.

Autorin: Ruthild Raykowski, Lüneburg
Kontakt

 


Über das Projekt „Deportationen aus Nordwestdeutschland“